Der Geliebte
Freitag.«
»Seid ihr eigentlich schon mal einen Abend aus gewesen? Ich meine, ohne die Kinder?«
»Nein. Noch nie. Das geht auch nicht, wir haben niemanden zum Aufpassen. Noch nicht. Aber das kommt schon alles noch.«
»Ich hab eine Idee, Simone.« Erica sah noch einmal zum Haus hinüber und tauschte einen Blick des Einverständnisses mit Gerard. Er nickte. »Wie wäre es, wenn wir die Kinder nach St. Hilaire mitnehmen würden? Dann hättest du mal ein paar Tage frei. Könntest ein bisschen zur Ruhe kommen.«
»Nein, Quatsch, bist du verrückt? Das ist nicht nötig. Es geht wunderbar.«
»Komm schon, Simone, du musst dich auch nicht übernehmen. Sieh dich doch mal an. Du siehst verdammt noch mal aus wie eine wandelnde Leiche. Wir nehmen Bastian und Isabelle schön mit auf unseren Campingplatz und machen uns ein paar nette Tage mit ihnen. Sie können schwimmen und Crêpes backen, und du hast eine Weile deine Ruhe.«
Bastian kam unter dem Tisch hervor und sah mich erwartungsvoll an. »Au ja, Mama, dürfen wir? Bei Erica und Gerard gibt es ein Schwimmbad, wusstest du das? Wir wollen schwimmen! Bei dir dürfen wir das nie!«
Eifrig versicherte er sich der Unterstützung Isabelles: »Isabelle, willst du auch schwimmen?«
Begeistert nickte sie, ihre Augen strahlten. Dann legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht. »Aber wir dürfen nicht, wegen Mama.«
Schließlich willigte ich ein. Was blieb mir auch anderes übrig?
Ich ging zum Wohnwagen, kramte zwei Taschen hervor, suchte das Schwimmzeug der beiden, zusätzliche Kleidung, Ninchen und ein paar Spielzeugautos zusammen. Als ich auf den Hof zurückkam, saßen Isabelle und Bastian schon auf der Rückbank des Opels. Gerard schnallte die beiden an.
»Unsere Handynummer hast du, oder?«, fragte Erica, als sie mir die Taschen abnahm.
»Ja, sicher.«
Sie gab mir einen Abschiedskuss und knuffte mich in die Schulter. »Wenn du Lust hast, morgen mal vorbeizuschauen, bist du natürlich herzlich willkommen. Aber ich denke fast, du solltest es lieber ruhig angehen lassen. Nimm dir ein bisschen Zeit für dich selbst, Mädel!« Sie blickte um sich. »Mein Gott, wenn du ständig von so viel Lärm und Chaos umgeben bist, kannst du ein paar Tage Ruhe wirklich brauchen, glaub ich. Hast du Bücher hier?«
»Ja, genügend.«
»Wir bringen die Kinder Sonntag im Laufe des Tages wieder zurück. Mach dir keine Sorgen, wir lassen uns schon was einfallen, damit sie sich nicht langweilen. Und wenn’s dir zu lang wird, ruf einfach an, dann erklär ich dir, wie du fahren musst.«
»In Ordnung«, hörte ich mich sagen.
Während ich dem Opel, der mit lautem Gehupe die Zufahrt entlangfuhr, hinterherwinkte, fiel mein Blick auf Michel. Er saß an die Mauer der Scheune gelehnt, drehte sich eine Zigarette und sah mir direkt ins Gesicht.
»Hast du jetzt das Reich für dich allein?«, fragte er. »Die Kinder über Nacht weg?«
Ohne mich vom Fleck zu rühren, nickte ich. Ich spürte seinen Blick über meinen Körper gleiten. Mir stockte der Atem. Wie er mich ansah - ich konnte seinen Blick geradezu körperlich spüren. Er durchbohrte mich.
Ja, ich war heute Abend allein. Den ersten Abend, seit wir nach Frankreich gezogen waren.
Und Michel wusste es.
Ich schluckte. Blieb noch kurz stehen, unschlüssig, was ich sagen sollte.
Michel hielt den Kopf schief, um sich seine Zigarette anzuzünden. Nahm einen Zug und lehnte den Kopf wieder an die Mauer. Keine Sekunde hatte er die Augen von mir gelassen. Schließlich fragte er: »Soll ich vorbeikommen?«
Mein Herz setzte einen Schlag aus, in meinem Unterleib fing es an zu kribbeln. Wollte ich, dass er heute Abend vorbeikam? Es war eine Entscheidungsfrage. Jetzt plötzlich war es eine Entscheidungsfrage. Nicht etwas, was einfach so passierte, im Fluss der Ereignisse, sondern eine Frage von Ja oder Nein.
Ohrenbetäubend heulten Alarmsirenen in meinem Kopf auf. Ich dachte an Isabelle, an Bastian. An meine Großeltern, an die sorgfältig abgesicherten Grundfesten unseres Lebens, an das soziale Netzwerk, das Eric und ich in den letzten Jahren aufgebaut hatten, in den mir so kostbaren dreizehn Jahren unserer Ehe. Ich liebte Eric wirklich, trotz seiner Grillen, trotz der Phasen, in denen ich nicht an ihn herankam, trotz unseres doch ziemlich verkümmerten Sexlebens, das nach Bastians Geburt eigentlich nie wieder wie früher geworden war. Und im Grunde war Sex ja auch nicht das Wichtigste in einer Beziehung. Das wurde einem nur immer eingeredet. Dieses
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