Der Geliebte
Erica. Ihre dunklen Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und an der Luft trocknen lassen. »Gestern Abend hat sie ganz problemlos an der Bar einen jus de fraise bestellt.«
»Ziemlich clever«, pflichtete Gerard ihr bei. »Immerhin sind sie einfach so in ein fremdes Land mit einer fremden Sprache verpflanzt worden. Da sieht man mal wieder, wie flexibel Kinder sind.«
»Ja, das geht schnell«, sagte Eric. »Noch ein halbes Jahr, dann können sie uns was beibringen.«
Ich sagte nicht viel. Mit meinen Gedanken war ich meilenweit entfernt.
Ich spielte mit einem Becher Wein in der Hand und sah pro forma zu Bastian und Isabelle hinüber, die jetzt mit zwei anderen Kindern redeten. Niemand merkte mir irgendetwas an. Auch Eric nicht. Ich war zu spät in Mérignac angekommen, eine gute halbe Stunde, aber der Flug hatte Verspätung gehabt, sodass ich keine Ausrede gebraucht hatte. Nachdem Michel gegangen war, hatte ich die Bezüge in die Waschmaschine gestopft, das Bett frisch bezogen, mich schnell geduscht und dabei alle Spuren unseres Zusammenseins im Abfluss weggespült. Was ich nicht wegbekommen hatte, war das raue Gefühl zwischen den Beinen. Es brannte ein bisschen.
»Du siehst schon ein bisschen besser aus als gestern«, sagte Erica zu mir und berührte mich kurz am Arm. Verwirrt sah ich auf. »Warum nehmt ihr beiden euch nicht einfach frei und nutzt die Gunst der Stunde? Wenn wir es euch schon anbieten …«
Eric hob die Brauen und sah mich an, zwinkerte mir zu. »Klingt verlockend. Ein ganzer Wohnwagen für uns allein, was für ein Luxus.«
Ich rang mir ein Lächeln ab.
Es war zwei Uhr nachts. Die Anzeige des Radioweckers leuchtete grün in der Dunkelheit. Ich hatte gesehen, wie es zwölf Uhr geworden war, eine Minute nach zwölf, zwei Minuten nach zwölf. Eine Minute nach der anderen hatte ich verstreichen sehen, während ich hellwach dagelegen hatte.
Ich konnte nicht schlafen. Nicht in diesem Bett. Nie wieder.
Eric hatte den Arm über mich gelegt und lehnte schwer an meinen Rippen. Sein Atem strich mir über die Wange. Ich versuchte, ein Stück von ihm abzurücken, aber es ging nicht. Das Bett war zu klein.
Was hatte ich getan? Was hatte ich mir da eingebrockt?
Es war aussichtslos. Völlig aussichtslos.
Letzte Nacht hatte ich mit Michel die fantastischste, intensivste Erfahrung gemacht, die ich überhaupt je mit einem Mann gemacht hatte. So etwas hatte ich nie zuvor erlebt, nicht so. Nicht mit Eric und mit niemand vor Eric. Überhaupt noch nie. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas gab, dass Sex so überwältigend sein konnte. Während ich im Dunkeln neben Eric lag, reichte schon der bloße Gedanke an Michel, an seinen Blick, seinen Geruch und seine Stimme, an seine raue Hand zwischen meinen Beinen, um meinen Herzschlag und meine Atemzüge zu beschleunigen. Ich schloss die Augen und spürte, wie sich etwas in meinem Unterleib zusammenzog.
Die Sehnsucht zerriss mich fast.
Kurz kam mir ein wilder Gedanke in den Sinn. Weggehen. Ein neues Leben anfangen. Alles hinter mir lassen. Hinter Michel aufs Motorrad steigen, die Arme um seine Taille legen, den Körper an seinen pressen, während die Reifen über den Asphalt rasen. Unterwegs ans Meer, in die Berge, wohin auch immer. Irgendwohin, wo wir jeden Tag nebeneinander aufwachen können.
Bastian hustete. Ein trockener, tiefer Husten, der kurz anhielt. Alarmiert hob ich den Kopf. Bis vor ungefähr zwei Jahren hatte Bastian regelmäßig Asthma-Anfälle gehabt. Sie waren von selbst weggegangen, und ich hatte all diese Nächte schon fast wieder vergessen, all die Nächte, in denen ich kaum geschlafen hatte, unruhig im Bett auf Bastians Husten lauschend, hoffend, dass er durchschlafen würde, dass es vorbeiginge. In dem alten Wohnwagen war die Luft fast immer stickig - für Kinder mit Asthma-Neigung war das bestimmt alles andere als gesund.
Der Husten hörte auf. Ich ließ den Kopf wieder ins Kissen sinken und starrte die dunkle Decke an.
Was für Flausen hatte ich mir da eigentlich gerade in den Kopf setzen wollen?
Hatte ich soeben tatsächlich daran gedacht, mit einem Zwanzigjährigen durchzubrennen, auf seinem klapprigen, rostigen Motorrad, immer auf den Horizont zu, so lange, bis das Ding den Geist aufgab, bis das Benzin oder unser Geld alle war und wir arm, aber glücklich an der Böschung standen und den Daumen in den Wind hielten, um weiterzutrampen - und wohin überhaupt, in Gottes Namen?
Ich kannte Michel kaum, aber
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