Der Geliebte
nächsten Wochenende würde ich bei Peters Fest bestimmt ein paar Frauen meines Alters kennenlernen, zu denen ich Kontakte knüpfen konnte. Denn das vermisste ich allmählich doch: jemanden, mit dem ich reden konnte, nicht nur übers Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht und in meiner eigenen Sprache, und sei es auch nur über Alltagsdinge. Ein ganz normales Gespräch mit jemandem, der wusste, was es bedeutete, auszuwandern, der dieses Gefühl der Heimatlosigkeit aus eigener Erfahrung kannte und mir sagte, dass schon alles gut werden würde.
Auch mit diesen Sorgen wusste ich nicht, wohin. Wenn ich mit Freundinnen zu Hause telefonierte, hatten die keine Ahnung, wie unser Leben hier aussah. Anscheinend glaubten sie, dass die Männer in Südfrankreich alle mit Baskenmützen herumliefen, hässliche Enten fuhren und ihre Gänse mit Maisbrei vollstopften.
Dass Frankreich ein modernes, westliches Land mit politischen Konflikten, einer eigenen Autoindustrie, DSL und einer lebendigen Jugendkultur inklusive Drogenproblemen war, mit dem Unterschied, dass es hier viel mehr Freiraum gab als in den Niederlanden und eine ziemlich andere Kultur, das schien niemand aus meinem alten Freundeskreis zu begreifen. Umgekehrt fühlte ich mich in Bezug auf ihr Leben auch immer mehr als Außenstehende. Ich konnte mir den ganzen Stress, die Parkplatzprobleme, die Staus und das Hickhack mit der Kinderbetreuung nicht mehr so richtig vorstellen. Insgesamt wurde das Gefühl, nirgends mehr zu Hause zu sein, immer stärker. Als hinge ich in einem Vakuum, einem Niemandsland, ganz auf mich allein gestellt.
Natürlich hatte diese innere Leere in Wirklichkeit vor allem mit Michel zu tun, mit seiner Abwesenheit und der fast unerträglichen Ungewissheit über deren Gründe. Rein verstandesmäßig wusste ich das durchaus. Aber es vertrieb die dunklen Wolken in meinem Kopf nicht. Der Regen, der draußen ohne Unterlass niederprasselte, tat meiner Stimmung auch nicht gerade gut.
Ich nahm einen letzten Bissen von meinen Tagliatelle und sah Eric an, der genau wie die Franzosen gedankenverloren mit einem Stück Baguette die Saucenreste von seinem Teller wischte. Ich kam kaum noch an ihn heran, er schien nur noch in Baumaterial und Berechnungen zu denken.
Ich musste jetzt wirklich aufhören mit der Schwarzseherei und dem Selbstmitleid. Eric würde schon wieder zu sich kommen, wenn das Haus erst einmal fertig wäre.
Es konnte doch nur besser werden.
Ich liege auf dem Rücken. Graue und schwarze Schatten sowie unscharfe Linien tanzen mir vor den Augen. Eben ist kurz das Licht ausgegangen, einfach so, ohne Vorwarnung. Als ich auf die Uhr sehen will, fällt mir wieder ein, dass man sie mir abgenommen hat. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist.
Sie haben mich nicht aus meiner Zelle herausgeholt. Den ganzen Tag lang nicht. Warum halten sie mich hier fest, ohne mir irgendwelche Fragen zu stellen? Ich überlege, ob das ihre Routine ist, ihr Standardprogramm: die Leute im Ungewissen und sich selbst überlassen, auf sechs Quadratmetern, ohne jede Ablenkung bis auf die eigenen, sich im Kreis drehenden Gedanken. Damit man gezwungen ist, über das, was man getan hat, nachzudenken, sodass man langsam durchdreht und schließlich für jeden menschlichen Kontakt dankbar ist, der diesen zermürbenden inneren Dialog verstummen lässt.
Ich drehe mich zur Wand und starre vor mich hin, die Augen weit geöffnet, ohne etwas zu sehen. Es sind noch mehr Menschen in diesem Zellenblock. Gedämpftes Gemurmel dringt herein. Jemand klopft an ein Rohr. Gerade hörte ich noch jemanden schreien, eine Männerstimme. Verstehen konnte ich nichts.
Mit den Fingerspitzen taste ich im Dunkeln über die Wand, kratze daran. Ich denke an Eric, an Isabelle, an Bastian.
Nicht an sie denken, nicht.
Ob sie jetzt schlafen? Was Eric ihnen wohl erzählt hat?
Aufhören!
Ich verschränke die Hände hinter dem Kopf und schließe die Augen. Versuche mir vorzustellen, ich wäre nicht hier, sondern bei dem kleinen See. Wenn ich mir Mühe gebe, klappt es vielleicht, dann spüre ich die Sonne auf der Haut, den Wind im Haar, höre die Schwalben und Frösche, das raschelnde Gras …
Es klappt nicht. Ich starre die verschlossene Tür der Zelle an, in die ich eingeschlossen bin. Ich will hier raus. Will selbst bestimmen, was ich tue, das Licht an- und ausmachen können, Musik hören, fernsehen, ein Buch lesen, nach draußen gehen, einkaufen, Bastian und Isabelle etwas vorlesen. Frei sein. Ich war frei,
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