Der Geliebte
fragte ich.
Der Bürgermeister, dessen Name mir entfallen war, machte ein trauriges Gesicht. »Die sind verwahrlost, es hat sich niemand darum gekümmert. In den sechziger Jahren wurden sie schließlich alle ausgehackt. Sehr schade, aber was soll’s, das war der Fortschritt, wissen Sie. Es zog die Leute in die Städte, sie wollten hier nicht mehr bleiben. Auch schade um das Haus. Aber umso mehr hat es uns alle gefreut, dass es jetzt im alten Glanze wiederersteht.« Mit einem freundlichen Nicken und nochmaligem Händedruck verabschiedete er sich von uns.
»Das wäre in den Niederlanden doch undenkbar«, sagte Eric. »Dass der Bürgermeister zu einer Schulaufführung kommt und mit allen ein kleines Schwätzchen hält.«
»Ich weiß nicht mal, wer unser Bürgermeister war«, dachte ich laut nach.
Langsam trudelten die ersten Kinder in der Aula ein. Ich erkannte zwei Jungs aus Isabelles Klasse wieder.
Schließlich entdeckte ich auch die fröhlichen Gesichter von Bastian und Isabelle. Begeistert kamen sie auf uns zugerannt. Die Lehrerin hatte ihnen die Schminke nicht richtig abgewischt, um Isabelles Nase und Augen waren noch blaue Ränder zu erkennen.
»Mama, hast du mich gesehen?«
»Ja, Schatz.« Ich strich ihr über die Zöpfe. »Du warst großartig, Mädchen, einfach toll! Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ich stieß Eric an. »Sollen wir gehen?«
Er ließ sich den letzten Rest Wein die Kehle hinunterrinnen. »Ja, lass uns mal los. Es ist auch schon halb zwölf. Du und die Kinder, ihr habt morgen frei, aber ich muss mich um acht Uhr morgens schon wieder um die Jungs kümmern.«
Auf dem Rückweg lagen Isabelle und Bastian auf der Rückbank und dösten vor sich hin. Zwischendurch musste Eric eine Notbremsung machen, weil zwei Wildschweine mit aufgerichteten Schwänzen quer über die Straße liefen. Im Licht unserer Scheinwerfer konnten wir ihre Augen leuchten sehen.
»Was meinst du«, fragte Eric, »sollen wir ein paar Weinreben pflanzen? Vielleicht bringt uns das noch mehr Sympathien ein.«
»Ich weiß nicht. Ich habe keinerlei Ahnung von Wein. Und du auch nicht.«
»Das kann man doch lernen. Vielleicht mach ich das noch mal, Weinreben anbauen. Der Boden eignet sich ja anscheinend gut dafür.«
Ich schwieg und richtete den Blick auf die kleine Straße, die vor uns lag. Die Scheinwerfer des Volvos erleuchteten Bäume, Sträucher und manchmal einen einsamen Briefkasten am Anfang einer Wagenspur oder eines in den Wald führenden Pfads. Laternen gab es hier nirgends.
Unwillkürlich schweiften meine Gedanken zu Michel ab. Seit dem Fest hatte ich ihn nicht mehr getroffen. Irgendwie war ich ein bisschen enttäuscht von ihm. Er hatte mich an jenem Abend draußen vor dem Haus einfach stehen lassen. War abgehauen, der Konfrontation aus dem Weg gegangen. Ohne ein Wort zu sagen, ohne mich zu warnen.
Und doch verging keine Stunde, in der ich nicht an ihn dachte.
»Simone! Ne dis rien! «
Auf Anhieb sitze ich kerzengerade im Bett. Ein Schrei, der in meinem Kopf nachhallt. Ich hebe das Kinn und lausche. Stille.
Es dauert kurz, bevor mir klar wird, wo ich mich befinde. Ja, ich weiß es wieder. Die harte Matratze, die völlige Finsternis. Der Geruch von Angst, Verzweiflung, Schweiß und Chlor.
Sag nichts.
Ich ziehe die Decke fester an mich und schlinge die Arme um meinen Leib. Habe ich geträumt? Geschlafen? Im Takt meines Herzschlags scheint mein ganzer Körper zu pulsieren, während ich angespannt lausche.
Nur noch Stille.
Ich muss geträumt haben. Natürlich. Es ist wahrscheinlich mitten in der Nacht, und bis auf das Klopfen meines eigenen Herzens ist kein Laut zu vernehmen. Das Blut saust mir in den Ohren.
» Ne dis rien! «
In der Dunkelheit leuchten meine Augen auf.
Es klingt gedämpft, nicht als ob jemand laut rufen würde, aber dafür umso realer. Ich täusche mich nicht.
Ich kenne diese Stimme. Oh ja, und ob ich sie kenne. Ich lächle.
Ich bin hier nicht allein.
Schritte auf dem Gang, sie gehen an meiner Zelle vorbei. Jemand mahnt zur Ruhe. Ich höre Schlüsselbunde rasseln.
Während warme Tränen durch meine Wimpern rinnen, gebe ich ein stilles Versprechen ab.
Ich werde nichts sagen. Kein Wort.
22
»Ich gehe einkaufen.«
»Oh, Mama, darf ich mit?«
»Nein, Schatz, es wird sonst zu spät für euch, ich möchte gern, dass ihr um neun im Bett liegt.«
»Ist doch nicht so wichtig«, brummte Eric. »Es ist Wochenende, morgen ist Samstag.«
Bastian sah erwartungsvoll zu mir auf. Für
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