Der Geliebte
der Hauptstraße fiel nur noch ein fahler Schein auf die in den Querstraßen geparkten Wagen.
In ein solches Viertel würde ich normalerweise gar nicht kommen.
Und doch ging ich jetzt hier entlang. Meine Absätze klackerten zielbewusst auf dem Trottoir. Zum ersten Mal, seit ich denken konnte, tat ich nicht das, was von mir erwartet wurde, sondern das, was ich von ganzem Herzen wollte. Was diesen Wandel bewirkt hatte, die Auswanderung, meine derzeitige Lebensphase, unsere spartanischen Lebensverhältnisse, das warme Wetter oder alles zusammen? - Ich wusste es nicht. Was ich sehr wohl wusste, war, dass ich etwas tat, was für mich selbst richtig war, und darauf wollte ich nicht verzichten. Ich hatte ein ausgesprochen gutes Gefühl dabei.
Ein befreiendes Gefühl.
Vor dem Eingang blieb ich stehen. Drei Stufen, die zu einer Doppeltür aus Drahtglas führten. Ich drückte gegen deren rechte Hälfte. Im Flur lagen plattgetretene Dosen und Reklameblätter auf dem Boden. Ich ging die Treppe hoch: deprimierendes Betongrau in grünlichem Dämmerlicht. Die Wände waren mattgelb gekachelt.
Hier wohnte Michel also. Mindestens zweimal täglich benutzte er diese Treppe.
Als ich den ersten Absatz erreicht hatte, war ich ein wenig außer Atem, und das Herz hämmerte mir in der Brust. Überall Türen, nirgends ein Fenster. Schmutzige, verschmierte, ehemals weiße Wände, vergitterte Deckenlampen. Der Ort, an dem meine Befreiung stattfinden sollte, hatte etwas von einem Gefängnis an sich.
Bei Nummer 38 klopfte ich an, nachdem ich zuvor meinen Rock ein bisschen nach unten gezogen, mein Haar zurechtgeschüttelt und mir selbst Mut zugesprochen hatte. Ich versuchte zu schlucken, aber mein Mund war zu trocken.
Michel öffnete die Tür. Er trug ein straffes, apfelgrünes T-Shirt mit einem Aufdruck und eng anliegende schwarze Boxershorts. Forschend sah er mich an, mit einem Blick, den ich nicht richtig einordnen konnte. Dann zog er die Tür einladend weit auf, und ich trat ein.
In der Mitte des Raums, der nicht viel größer war als Bastians Schlafzimmer, blieb ich stehen. Zu meiner Linken befand sich eine einfache beigefarbene Spüle, sauber und ordentlich. Auf der anderen Seite konnte man von einem kleinen, viereckigen Fenster aus das Haus gegenüber sehen. Ein Zweisitzer von undefinierbarer Farbe und ein französisches Bett aus Metall mit grau gestreiftem Bettzeug. Grauer Teppich, ein kleiner Fernseher, ein CD-Player. Über dem Bett an der Wand, als Blickfang, das Poster eines Tarantino-Films. Ein Radiowecker, ein Stapel Zeitschriften, CDs und zwei maßstabsgetreue Modelle von Motorrädern.
Das war alles. Sonst nichts. Das war sein Wohnraum. Sein Zuhause.
Ein größerer Kontrast zu unserem Wohlstand, zu der Weitläufigkeit unseres Zuhauses, den unzähligen Zimmern und den vielen Hektar Grund und Boden, die wir unser Eigen nannten, war kaum denkbar.
Ich hatte noch kein Wort gesagt, Michel ebenso wenig. Und doch kommunizierten wir miteinander. Ich spürte ein fiebriges Prickeln, spürte Vibrationen im Raum. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Als seine Hand zielstrebig unter meinen Rock fuhr und er sein Gesicht in meinem Hals vergrub, wusste ich wieder, warum ich hier war. Alles andere wurde bedeutungslos. Um die ganze Welt wäre ich gereist, nur um diesen Körper an meinem zu spüren.
»Ich hab was für dich«, sagte Michel, als ich von der Toilette zurückkam, die vom Flur abging. Michel teilte sich das Bad mit acht anderen Leuten. Keiner von ihnen war zu Hause. Schmutzige Unterwäsche, Handtücher und eine bunte Sammlung von Bechern mit Zahnbürsten sprachen allerdings eine deutliche Sprache.
Als ich sah, was er für mich auf den Tisch gelegt hatte, erstarrte ich. Es war das erste Mal, dass ich es in echt sah.
Kokain.
Ich starrte den kleinen Spiegel und das Häuflein weißen Pulvers an, das darauf lag. Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich.
»Das wolltest du doch mal probieren, oder?« Michel hatte sich auf dem Bett ausgestreckt, zwei Kissen hinter dem Kopf. Die CD, die er inzwischen eingelegt hatte, kannte ich nicht. Französischer Rap.
Er hatte also sehr wohl etwas von dem Gespräch mitbekommen, das ich in der Nacht nach dem Fest mit Peter auf Niederländisch geführt hatte. Aber das war ein vom Alkohol vernebeltes Gespräch gewesen, rein rhetorisches Geplänkel.
Oder etwa nicht?
Unablässig starrte ich das weiße Pulver an. Fasziniert. Biss mir auf die Unterlippe. Nur eine einzige Linie. Wäre
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