Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
stehenbleiben.«
Doch Emil schien nicht mehr weitergehen zu können.
Er stand da, tropfnass, und starrte in die Tiefe. Es waren sicherlich noch fünfzig Meter bis hinunter zum schäumenden, tobenden Fluss. Aber er lärmte bis hier herauf. Schwarze Krähen stiegen aus der Tiefe auf und ließen sich wieder fallen. Grünlichgrauer Stein, abweisend und schroff, gefährlich, kalt und von bizarrem Gehölz durchwachsen, säumte das sich windende Gewässer. Dies war wirklich ein Tal zum Fürchten. Jetzt hatte ich mein Fegefeuer. Mama wollte ja unbedingt an ihre Grenzen gehen.
»Emil«, schrie ich, »geh weiter!«
Doch Emil stand und starrte.
Ich stand hinter ihm. Ganz dicht. Die Brücke wackelte. Aus dem Regen wurde Hagel.
»Emil! So geh um Himmels willen weiter!«
»Ich kann nicht!«
Emil war weiß. Schneeweiß. Seine Lippen waren völlig blutleer. Um Gottes willen. Der kippte mir hier aus den Latschen! Ja, war ich denn stärker als er?! Das wäre das erste Mal, dass der Bursche mir ab kackte! Ich war hart wie Oda-Gesine.
»Junge! Sei kein Jammerlappen! Wir haben Verantwortung für die Kinder! Los! Setz dich in Bewegung, Mensch!«
Doch Emil konnte sich keinen Zentimeter weiterbewegen. Auf einmal traute ich ihm nicht mehr. Auf einmal hatte ich Angst vor ihm! Ich schrie in Panik gegen den Hagelschauer und das Rauschen der Wasserfälle: »Gib mir die Katinka! Los! Gib mir sofort meine Tochter!«
Katinka weinte voller Angst. Ich riss sie ihm vom Arm und zerrte das verschreckte Kind hinter mir her über die Hängebrücke. Die lose zusammengenagelten Bretter unter uns schwankten. Nie, nie würde ich über diese Brücke zurückgehen. Nicht für alles Geld und alle Einschahquoten dieser Welt. Ich würde drüben meine Kinder nehmen und im Laufschritt das Weite suchen.
Aber ich hatte keine Kraft mehr. Mir zitterten die Knie, das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich steigerte mich regelrecht in eine Panik hinein, dabei wusste ich, dass ich ruhig bleiben musste, ruhig und überlegt, ich war diejenige, die uns das eingebrockt hatte, ich war die Mutter dieser Kinder, ich musste sie hier heil wieder herausholen, und ich hatte auch die Verantwortung für Emil.
Es schüttete und hagelte und stürmte.
»EMIL!«
Der stand auf der Hängebrücke, vornübergebeugt, als wollte er springen. Seine Hände krallten sich in das dünne Seilgeländer. Er starrte in die Tiefe.
Ich zog Katinka bis zu einem querliegenden Baumstamm und wuchtete sie hinüber. Von dort konnte sie nicht entwischen. Der Baumstamm war glatt und kalt und nass und dampfte.
»Du bleibst jetzt hier stehen, ich hole den Emil und komme sofort wieder«, beschwor ich das heulende Kind.
»Nein, Mama, geh nicht weg, ich hab Angst!«
Ein flüchtiger Blick zu Emil: Der wollte doch nicht springen? War der wahnsinnig geworden? Ich sprang auf und lief zwei Schritte.
»MAMA!! Lass mich hier nicht allein!« Katinka schrie in Panik, sie zitterte, ihr Gesicht war blau angelaufen, und die dicken Rotzschlieren liefen ihr aus der Nase. Ihre nassen Haare klebten.
Paulinchen war auch wach und begann zu schluchzen. Mein Herz raste. Jetzt nicht schlappmachen! Jetzt nicht!
Du kannst abkacken, wenn du wieder im Fernsehen bist. JETZT NICHT. Emil braucht Hilfe. So ist Emil sonst nicht.
Ich bückte mich, so gut das mit Paulinchen vor dem Bauch ging, zu meinem Katinkalein, das vergeblich versuchte, zu mir zurück über den Baumstamm zu klettern.
»Nein, ich lasse dich nicht allein. Sei ganz ruhig. Schau mal, hier wachsen Pilze! Du darfst sie nicht pflücken, nur zählen! Zähl die Pilze, und wenn du fertig bist, bin ich wieder bei dir!«
Mit Paulinchen vor dem Bauch taumelte ich zurück auf die Brücke. Es war Wahnsinn. Es schüttete so, dass ich die Hand vor Augen nicht sah. Mein Paulinchen war durchgeweicht. Hinter dem nassen Baumstamm stand mein anderes Kind und schrie: »Mama! Ich hab Angst!«
»Zählen«, schrie ich. »ZÄH-LEN!! EINS, ZWEI, DREI …«
Klar, hast du Angst, Kind, dachte ich. Ich auch. Ich hab noch nie solche Angst gehabt. Vor keiner Fernsehsendung und vor keiner Geburt. Alles Peanuts gegen diese Angst. Ich taumelte weiter, tastete mich an dem Seil entlang, das als Geländer diente. Emil stand auf dieser im Wind schwingenden morschen Hängebrücke, die aus nichts als aus maroden Seilen und Brettern bestand, und starrte in die Tiefe. Sein kinnlanges Haar klebte ihm in tropfenden Strähnen im Gesicht.
Würdest du dich freundlicherweise ein andermal umbringen, du
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