Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
konnte. Aber es ging hier nicht um mich. Es ging hier nicht um das, was ich mir zumuten wollte. Es ging um Emil. Seine Probleme waren viel größer als meine lächerlichen Einschaltquoten und Marktanteile und Problemzonen und was es da alles an Belanglosem gab.
Und dann erzählte mir Emil, was passiert war.
Sie waren zu einer dreitägigen Wanderung aufgebrochen, Emil, sein Vater und der kleine Bruder Jacob. Sie wollten jagen gehen und fischen, klettern und zelten. Ein richtiges Abenteuer sollte es werden. Der kleine Bruder war zwölf. Sie waren mitten im dichten Wald – es gab weit und breit keinen Menschen. Es war gebirgig und felsig. Abgründe und Schluchten. Eine Landschaft wie hier. Nur alles viel weiter und einsamer. Es gab keine Ortschaften mit Dorfläden und keine Landstraßen, die sich an den schroffen Bergketten vorbeiwanden und auf denen Busse fuhren, die einen in die nächste Stadt brachten. Es gab nichts. Nichts und niemanden. Es war die unendliche Weite von Südafrika.
Sie kletterten herum und jagten einem Tier nach, das sie schießen wollten, es war halb Übermut und halb Ernst, sie waren mit Eifer bei der Sache. Jacob war der Flinkeste und der Eifrigste. Behende sprang er auf den Steinen herum, da tauchte plötzlich zwischen zwei Felsblöcken eine glänzende schwarze Schlange auf. Der Vater schrie: »Vorsicht!« Die Schlange bäumte sich und zischte.
Jacob erschrak, wich zwei Schritte zurück und rutschte aus. Er klammerte sich noch an einem Stein fest, aber der Stein war lose und gab nach. Jacob schrie. Er schrie die ganze Zeit. Er schrie, während er fiel. Und er schrie auch, als er zwanzig Meter tiefer in der Schlucht aufprallte. Er war noch nicht ganz unten. Er blieb an einem Felsvorsprung hängen, er klammerte sich an Wurzelwerk fest, es gelang ihm sogar, sich ein Stück hochzuziehen. Doch seine Beine waren zerquetscht. Emil konnte genau sehen, dass sie eine blutige, zerbrochene Masse Gliedmaßen waren. Jacob schrie und schrie, er hing blutend und zerfetzt zwischen den Felsblöcken und wimmerte um Hilfe.
Der Vater reagierte blitzschnell, warf alles von sich, was er trug, seinen Rucksack, sein Gewehr, und kletterte in Panik den Abhang hinunter. Er kam ganz dicht an Jacob heran, er schrie ihm zu, dass er durchhalten solle, er versuchte, ihm ein Seil zuzuwerfen, aber Jacob hatte keine Kraft, das Seil zu fangen. Beim Versuch, den Jungen mit den bloßen Händen zu retten, rutschte der Vater in die Felsspalte. Er fiel lautlos, wie in Zeitlupe, und sein Körper zerschellte ganz unten, über zwanzig Meter tief, auf dem Grund. Er war nur noch ein kleiner blutiger Fleck.
Jacob schrie und schrie. Er musste höllische Schmerzen haben. Emil wusste, dass er Jacob nie und nimmer retten konnte. Das Seil war weg. Er hatte nichts, womit er Jacob helfen konnte. Er wusste auch, dass er mindestens einen Tag brauchen würde, um Hilfe zu holen. Mindestens. Wahrscheinlich länger. Zwei Tage oder drei. Über ihnen war dichter Wald. Ein Hubschrauber konnte hier nicht landen. Jacob würde inzwischen verbluten, jämmerlich und elend, einsam und qualvoll, und würde stundenlang einen grauenvollen Tod sterben, im Bewusstsein, dass der Vater zwanzig Meter unter ihm lag – tot. Seinetwegen.
Emil war völlig verzweifelt. Er konnte seinen kleinen Bruder nicht mehr leiden sehen! Da traf er eine Entscheidung. Er handelte wie in Trance. Alles lief ab wie in einem Traum. Emil sah sich selbst dabei zu, wie er etwas tat, über das er nicht nachgedacht hatte. Aber von dem er wusste, dass er es tun musste. Emil bückte sich, hob das Gewehr auf, sah seinem Bruder ins Gesicht – und drückte ab. Der Schuss peitschte durch die Luft. Augenblicklich verebbte das fürchterliche Geschrei. Ein paar Krähen flatterten erschreckt hoch. Krahkrah-krah! Dann herrschte eine entsetzliche Stille. Nichts mehr. Nichts.
Jacob war tot. Er rutschte ganz langsam von dem Felsvorsprung, an dem er sich festgeklammert hatte, und fiel hinunter in die Tiefe, dorthin, wo schon sein Vater lag. Emil hörte nicht mal mehr das Geräusch des Aufpralls.
Er stand da, stundenlang, er wusste nicht mehr, ob es Tage waren oder Stunden, und starrte in den Abgrund, wo sein Vater und sein Bruder lagen und wo niemand sie je wieder herausholen konnte.
Irgendwann irrte er dann fort. Ohne Besinnung, ohne zu essen und zu trinken, lief er tagelang, nächtelang durch den Busch. Er traute sich nicht nach Hause. Er konnte es seiner Mutter nicht sagen. Und seinen Brüdern
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