Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
Idiot! Der Fluss peitschte so lärmend gegen die Steine, dass man sein eigenes Wort nicht verstand.
»Emil!« Ich steigerte mich in Wut. »EMIL!«
Nichts. Er reagierte nicht.
Ich holperte fluchend über die morschen Bretter. Ein paar Zweige streiften mein Gesicht, ich merkte es kaum.
»Verdammte Scheiße! EMIL!!! Komm da jetzt weg!!!«
»MAMAAAA!«
»ZÄH-LEN! SECHS, SIEBEN, ACHT, NEUN, ZEHN!«
Krah-krah-krah, machte eine Krähe.
Ich näherte mich Emil mit schwankenden Schritten.
Lieber Gott, mach, dass er jetzt nicht springt. Wenn der jetzt springt, komme ich nie mehr hier weg. Ich komme weder nach links noch nach rechts jemals wieder die tausend nassen Stufen hinauf. Mit zwei schreienden Kindern. Und nichts im Magen. Ich muss hier sterben, wenn der jetzt springt.
Und außerdem, ich hab den Kerl doch in mein Herz geschlossen! Am Gesteine rauscht die Flut, heftig angetrieben. Wer da nicht zu seufzen weiß, lernt es unterm Lieben. Was mache ich denn ohne den? Mein Gott, was habe ich mir denn alles eingebrockt!
Emil war weiß. Seine Lippen zitterten. Er weinte.
Seit seinem Ankunftstag hatte ich ihn nicht mehr weinen sehen. Ich nahm seine Hände von den Seilen, drehte ihn mit aller Kraft an beiden Schultern und schob ihn wie eine Schaufensterpuppe vor mir her. Zwischen unseren angespannten, verkrampften Körpern schwankte eingekeilt das Paulinchen im Tragesack. Die Brücke knirschte. Krah-krah-krah, schrien die Krähen.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Aber dann waren wir drüben. Der Boden unter unseren Füßen schwankte nicht mehr.
Wir ließen uns auf den Baumstamm fallen, hinter dem mein Kind blau angelaufen stand und schrie. Gelbgrüner Rotz quoll ihm aus Mund und Nase. O Gott, das war ein einziger Alptraum!
Ich hob mein weinendes Katinkalein auf und nahm es auf den Schoß. In diesem Moment begann auch Pauline zu schreien. Ich fühlte, wie mir die Milch einschoss, obwohl ich seit zehn Tagen nicht mehr stillte.
»Gib mir die Pauline«, sagte Emil. Seine Lippen waren blau. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er streckte seine Hände aus, doch die zitterten so sehr, dass ich ihm auf keinen Fall eines meiner Kinder geben wollte. So drückte ich sie beide an mich, Katinka und Pauline, und schwor mir, ihnen später nie von diesem grauenvollen Erlebnis zu erzählen und von der Gefahr, in die ich sie gebracht hatte.
Ich wühlte mit zwei freien Fingern nach einem Taschentuch und putzte Katinka die Tränen ab. Zum Glück fand ich im Rucksack die Wolldecke und das trockene Gebäck. Ich drückte Katinka zur Beruhigung ein paar Kekse in die Hand. Paulinchen gab ich eine Flasche. Augenblicklich waren Beide still. Man hörte wieder den Fluss rauschen. Und die Krähen hörte man. Krah-krah-krah. Der Regen ließ nach. Es war nur noch ein Tröpfeln.
Sonst war alles still. Bis auf das Tosen des Flusses natürlich. Alles still? Nein. Emil schluchzte! Seine Stimme überschlug sich, es waren Töne, die ich nie vorher von einem Mann gehört hatte.
Ich legte meinen Arm um ihn, so gut das mit den zwei Kindern ging. Wir waren ein Knäuel aus heulenden, zitternden, frierenden Menschen, die alle Trost und Nähe suchten unter jener roten Fransenwolldecke, auf der ich sonst immer meine Gymnastik machte.
»Stimmt’s, dein Vater ist in einen solchen Abgrund gestürzt?«
Emil nickte unter lautem Weinen.
»Emil! Erzähl mir, wie das passiert ist!«
Er schüttelte schluchzend den Kopf.
Mein Gott. Der arme, arme Junge. Und ich schleppte ihn dauernd über Felsen und schmale Wanderwege und an schaurigen Abgründen vorbei! Er hatte es angedeutet, auf der Hinfahrt, vor dem Gotthardtunnel, aber ich konnte doch nicht ahnen, dass es so ein grauenvolles Erlebnis war, das ihn bedrückte!
»Wie ist das passiert? Bitte, Emil, erzähl es mir jetzt! Dann bist du es los, Emil! Bitte!«
»Es ist viel schlimmer, als du denkst«, rief Emil verzweifelt. Er warf sein Gesicht an meine Schulter und schluchzte, dass wir alle vier geschüttelt wurden.
Ich streichelte ihm die klatschnassen, klebrigen Haare. Dann hob ich seinen Kopf energisch hoch. »Erzähl es mir.«
»Ich kann nicht!«
»Emil! Hab ich denn bei dir überhaupt keinen Kredit?«
Ich schüttelte ihn an der Schulter. »Ich bin deine Freundin. Ich bin dein einziger, bester Freund!«
»Es weiß kein Mensch auf der Welt«, sagte Emil.
»Nur deine Mutter«, sagte ich.
»Nein. Auch meine Mutter nicht.«
Ich wartete. Ich war mir nicht sicher, ob ich das Geständnis jetzt ertragen
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