Der gemietete Mann: Roman (German Edition)
nicht.
Ich friemelte mir im Rennen den Still-BH zu und klopfte an Emils Tür.
»Emil?«
»Jou?!«
»Are you O.K.?«
Die Tür öffnete sich, und vor mir stand ein völlig verweinter Emil, einen Kopf größer als ich, unrasiert und mit letzten Pubertätspickeln im Gesicht.
»Ja, Junge, was hast du denn? What’s the matter?!«
»I miss my mom!«
Damit sank er mir aufschluchzend an die Brust.
Völlig verdattert streichelte ich ihm über den kratzigen Wollpullover, der nach Schweiß und Flugzeug roch. Da standen wir nun im Flur, zwischen Bobbycar und Tennisschlägern, und der fremde Junge schluchzte mir Rotz und Wasser an den Hals. Ja, leeven Himmel, wat sollisch jetz saare? Indianer kriesche net? Senta wüsste, wie man mit so was umgeht. Senta hatte immer das rechte Wort zur rechten Zeit. In solchen Situationen war sie robust und konnte zupacken. Bei Senta wurde nicht geflennt. Aber Senta war übers Wochenende verreist.
»I am now your mom!«, sagte ich entschieden. Jedenfalls so lange, bis Senta wieder da ist. Dat dat klar is. Ich kramte nach einem Taschentuch.
Er nahm es und schneuzte hinein und blickte mich dankbar an.
Unten brüllte das Baby.
»And now you come downstairs and have lunch with us«, sagte ich.
»I am not hungry, thanks.«
»Please come downstairs, just for a few minutes!«
Aber wasch dich erst, Junge, und zieh dir um Himmels willen endlich diesen kratzigen Pullover aus. »Do you need anything?« Wer weiß, was so’n Junge braucht. Vielleicht wollte er eine rauchen oder eine kiffen oder was. Woher sollte ich das wissen? Ach, wenn doch jetzt Senta hier wäre! Die hätte das alles im Griff gehabt. Die hätte ihm die Nase geputzt und sein Kopfkissen geschüttelt und ihn gleich mit, und dann wär die Sache erledigt gewesen.
»Mama! Die Pauline schreit! Bist du taub?«
»Ich komme!« Hastig rannte ich die Treppe runter und hob das arme Baby auf, das Karl einfach auf den Teppich gelegt hatte. Katinka drückte sich müden Blickes am Klavier herum und roch an ihrem Schnuller. Oskar drosch grausam auf einen Luftballon ein. Ich war dankbar, dass er nicht Flöte übte. Herr, gib Kraft.
»Heult der Emil immer noch?«
»Der Feigling! Bestimmt ist der auch noch Werder-Bremen-Fan.«
Werder-Bremen-Fan war zurzeit das schlimmste Schimpfwort, das man einem Versager sagen konnte. Warum, wusste ich auch nicht.
»Wahrscheinlich ist er kein Werder-Bremen-Fan«, sagte ich, während ich den Nippel vom Still-BH wieder aufschnappen ließ. Die Still-Hormon-Weiber kamen sofort wieder aus ihren Löchern getaumelt und sanken einander weinend in die Arme. Mir war auch ganz doll nach Weinen. Einfach weinen, stundenlang, Rotz und Wasser, und dabei Mahlers Auferstehungssinfonie hören. Danach war mir.
Katinkalein taumelte auf mich zu und roch an ihrem Schnuller, während sie sich in meine Halsbeuge robbte.
»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Oskar sauer.
Er musste sich vor Langeweile auf dem Teppich wälzen, der arme Kerl.
Karl popelte gefrustet in dem Milchschnittenrest auf dem Teppich herum. Immer langweilen, und keiner spricht deutsch, und alle sind bescheuert.
»Dann muss ich jetzt wohl Computer spielen«, sagte Karl und erhob sich trotzig.
Tja, Emil, dachte ich. Eigentlich wäre das jetzt dein Auftritt.
Doch die Bühne blieb leer.
Emil kam die nächsten sechs Stunden nicht aus seinem Zimmer.
»Bestimmt schläft er«, sagte ich. Am ersten Tag dürfen südafrikanische Sklaven noch alles. Dann nie mehr. Ganz klar.
»Der schläft nicht, der schreibt einen Brief«, meldete Oskar.
»Dann lass ihn schreiben.«
»Und wann spielt der endlich mit uns?«
»Später.«
»Dann geh ich zu Frau Prieß.«
Flugs war Oskar verschwunden.
Zu Frau Prieß musste man nur über die Terrasse rennen, das ging zur Not auch auf Socken, und dann ein kurzes Stück über runde Kieselsteine, vorbei an einem liebevoll gepflegten Blumenbeet, und dann stand man schon auf Frau Prießens Terrasse, und wenn man lange genug mit seinen Fäustchen an Frau Prießens Terrassentür hämmerte, dann schob sich wie von Geisterhand die Gardine zur Seite, und man sah in Frau Prießens lachendes Gesicht.
Frau Prieß hatte stets Zeit für die Kinder, sie hörte ihnen immer zu, sie bereitete ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Vollkorntoast mit Reformhausmarmelade, sie kramte willig Knetgummi hervor oder Malstifte, sie holte die Leiter aus dem Keller und ließ die Kinder von ihrem Schreibtisch springen, sie verfügte über eine
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