Der General und das Mädchen
>Argumentationsfelder in der NATO<. Sein Exemplar ist damals verschwunden. Aber ich glaube, das hat er nur fingiert. Das gab jede Menge Stunk.«
»Und du glaubst, wegen dieser Geschichte wurde er getötet?«
»Ja, das glaube ich«, sagte sie und begann zu weinen. »Dann müßten wir eigentlich noch mal in sein Haus und gründlich suchen. Bloß ist das leider versiegelt.«
»Aber ich habe den Schlüssel geklaut. Gestern abend habe ich sofort daran denken müssen. Ich habe alle Schlüssel geklaut. Die aus der Eifel und die aus Meckenheim.«
»Dann laß uns sofort fahren, du kannst im Auto weitererzählen.«
Die Sonne stand noch immer hoch und grell, das Land wiegte sich in der Hitze. Ich hatte Mühe, mich auf die ganze absurde Geschichte zu konzentrieren. »Wie war dein Washingtoner Leben mit dem General?«
»Wir machten keinen Hehl daraus, daß wir gute alte Bekannte waren. Alle nahmen an, ich schliefe mit ihm. Aber das war uns egal. Ich hatte das Apartment in Georgetown, und er kam, so oft er konnte. Meist legte er sich auf die Couch, ruhte aus, dachte nach, machte sich Notizen.«
»Was sagte dein Homer» dazu?«
»Er schwieg höflich. Irgendwie war ihm das Arrangement so ganz recht. Aber natürlich gerieten wir in den Tratsch der Diplomatenkreise. Jedenfalls, das dritte Leben des Generals begann auf meiner Couch, und ich bin stolz darauf.«
»Wie sah das aus?« Ich hoffte, sie würde endlich von dem Gutachten erzählen, aber ich wußte, daß sie so voll von ihrer Geschichte war, daß sie es auf ihre Weise erzählen mußte.
»Es fing damit an, daß er sagte, die Erde sei endgültig zu alt für Kriege. Er brachte sich NATO-Schriftstücke mit. Manchmal las er daraus vor. Es ging immer um Waffen und Waffensysteme. Er sagte zum Beispiel, die Generation nach ihm werde eines Tages fragen, warum sie vierzig Jahre lang nichts anderes getan hätten, als immer mehr Waffen in Stellung zu bringen. Er redete viel über die große Übung der NATO, die alle zwei Jahre in Europa stattfindet. Dann kriechen sie in ihre Bunker und schmeißen auf den Computern mit Atombomben. Sie gehen dabei davon aus, daß im Ostblock Unruhen ausbrechen und die Russen plötzlich mit all ihren Truppen gegen Westen marschieren. Otmar sagte, das alles wäre völliger Quatsch und würde real niemals passieren.«
»Das ist sicher spannend, aber es ist nicht so neu, daß er deshalb umgebracht werden müßte. Also, er schrieb auf deiner Couch.«
»Da hatte er Ruhe, da machte er sich Notizen. Er diktierte die Sachen dann in seinem Büro. Seepferdchen nahm das Stenogramm auf.«
»Wer ist bitte Seepferdchen?«
»Seine Sekretärin. Sie hatte ein Aquarium mit lauter Seepferdchen. Sie war auch mal Erbin. Du mußt wissen: Der General war von seiner Familie her sehr reich.«
»Langsam, langsam. Was geschah mit den Manuskripten?«
»Die Stenoblocks wurden vernichtet. Es blieben das Original und zwei Kopien. Er selbst ließ sie NATO TOP SECRET stempeln.«
»Und sein eigenes Exemplar verschwand?«
»Richtig. Das lag ordnungsgemäß in der Geheimdienststelle der deutschen Botschaft in Washington. Und irgendwie verschwand es.«
»Was war mit den anderen beiden Ausfertigungen?«
»Eine Kopie ging an den Minister, das Original an den Bundeskanzler. Der Minister ließ Otmar sofort kommen und machte einen Riesenkrach. Er forderte ihn auf, das Gutachten zurückzuziehen. Das machte Otmar nicht mit. Er bat um vierzehn Tage Bedenkzeit in Washington und dann um eine stille Entlassung aus dem Dienst. Und genau in diesen vierzehn Tagen verschwand sein eigenes Exemplar.«
Ich wußte immer noch nicht, was an dem Gutachten so brisant gewesen war, aber ich hatte so eine Ahnung. Und wenn ich recht hatte, dann war die Sache so heiß, daß ein paar Morde mehr bestimmt nicht zählten. Trotz der Hitze schauderte ich zusammen. Dann fragte ich mit möglichst ruhiger Stimme: »Wann war das?«
»September 1986. Eine Menge Leute sagten damals, die CIA hätte das Papier geklaut, oder der NSA, oder der KGB, oder irgendein anderer dieser Clubs. Es gab eine Untersuchung nach der anderen. Otmar kam am Ende zu mir und sagte, ich müsse nun allein erwachsen werden. Dann war er weg, und ich ging auch.«
»Du bist einfach gegangen?«
»Nun, ganz einfach war es nicht. Ich überzeugte Homer, daß unsere Ehe keine Ehe sei. Das funktionierte erst, als ich behauptete, ich sei sowieso
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