Der Gentleman
alles schon wieder ins Wanken geraten zu sein. Roberts Gedanken kreisten um eine Grafikerin, die fotografierte.
Endlich erhob er sich, seufzte, entledigte sich seiner Kleidung, kroch ins Bett, knipste das Licht aus, rauchte in der Dunkelheit noch eine Zigarette – eine Unart, deren Gefährlichkeit besonders nach Alkoholgenuß gar nicht schlimm genug eingeschätzt werden kann – und schlief ein. Nachts träumte er davon, daß eine schwarze Hexe (die als solche aus dem Rahmen fiel, weil sie alles andere als häßlich war), einen Berg von Herrenunterwäsche auf ihn türmte und ihn dadurch dem Erstickungstod auszusetzen drohte. Schon wieder Erstickungstod also. Das schien sich als Regel zwischen den beiden einzunisten.
Im Schlaf stöhnte Robert immer wieder: »Nein, nein, nein …«
Als er am nächsten Morgen ungewöhnlich früh erwachte, fühlte er sich jedoch leicht, froh, angeregt, unternehmungslustig. Noch im Bett glaubte er mit ausgeruhtem Gehirn feststellen zu können, daß dieses Altenbach bei aller Abgelegenheit eigentlich doch auch nicht zu unterschätzende Reize aufweise. Zuerst einmal die Luft. Mußte man sie nicht vor allem anderen nennen? Gute Luft gehört heute zum Kostbarsten überhaupt. Man frage die Leute aus den Industriegebieten.
Luft ist nicht greifbar. Luft ist kein Stoff – nur für den Chemiker ist sie das, der alles zerlegt, bis nichts mehr vorhanden ist. Luft ist viel, viel wichtiger als Aachener Tuch oder eine gut gebratene Kalbshaxe. Luft kann man nicht sehen, aber man kann sie fühlen. Der Mief in den Bierkneipen schwitzender Männer, der Gestank überreifen Käses im Laden, die Schwaden exotischer Parfüms in verschwiegenen Boudoirs, die Ausdünstungen schlechter Kantinenküchen, dies alles ist fast körperlich fühlbar. Solange Luft zur Trägerin von Gerüchen wird, hört sie auf, einfach Luft für uns zu sein.
Hier aber, in Altenbach, war die Luft noch Medizin; kein Chemie-Werk verpestete sie. Wenn am Morgen durch die Gardinen der geöffneten Fenster der Wind in die Zimmer wehte, brachte er prickelnde Grüße von Wald, Wiese und Feld mit sich, kräftige und doch kokette Grüße, erdenschwere und doch blütenleichte. Gegensätze waren das, die sich verschmolzen und im Menschen den Drang wachriefen, die Arme weit auszubreiten und laut zu sagen: »Ah …«
Robert Sorant sprang aus dem Bett, und als er ans Fenster eilte, um sich die Lunge mit der soeben in Gedanken gepriesenen würzigen Altenbacher Morgenluft vollzupumpen, fand er ein Zweites, das den Aufenthalt in diesem Städtchen lohnend machte: die Ruhe.
Der Großstadtmensch ist heute ein armes, wehrloses, gepeinigtes Wesen, ein Opfer seiner Umgebung. Verkehrslärm, Auspuffgase, das Geratter von Baumaschinen, Parkverbote, Strafmandate usw. usw. machen den Großstadtmenschen fertig, zerfetzen seine Nerven, höhlen seinen Körper aus und ziehen ihn auf einen Draht auf, bis er tanzt wie eine Marionette. Wenn er den Fuß vor die Tür setzt und sich in die Stadt begibt, muß er jedesmal froh sein, heil wieder nach Hause zu kommen und Gott auch dafür zu danken, daß in der Zwischenzeit die Wohnung nicht ausgeräumt wurde oder daß sich zumindest die Gattin erfolgreich des Ansturms einiger Staubsaugervertreter und Zeitschriftenwerbekolonnen hat erwehren können.
Und trotzdem, die Großstadt zieht die Menschen auch an, das ist das Seltsame; sie frißt sie auf, und viele merken das gar nicht; sie ist wie eine Dirne, die dich in den Arm nimmt und dir Sinnenlust vorgaukelt; daß dir dabei das Rückenmark ausgesaugt wird, nimmst du erst wahr, wenn du zusammenbrichst oder zumindest pleite bist. Dann aber wirft sie dich weg (die Dirne) oder speit dich aus (die Großstadt). Was dir beide niemals gewähren können, ist: Ruhe. Die Dirne hat's eilig, weil sie sich schon den nächsten Kunden erhofft; die Großstadt, weil einfach ihr ganzer Puls darauf angelegt ist, schnell zu schlagen.
Altenbach war anders. Sorant nickte lächelnd am Fenster, hier hüllte sie ihn ein, die göttliche Ruhe. Altenbach legte sie ihm sozusagen zu Füßen. Hier war es so ruhig, daß man geradezu wieder unruhig werden konnte. Draußen sangen nur die Vögel, und im Inneren des Hotels hielt der Tag auf dicken Filzsohlen Einzug in die Korridore und Zimmer.
Robert trödelte herum, und plötzlich war es schon halb zehn. Nun aber dalli, hinunter ins Restaurant zum Frühstück!
Als er sich an seinen Tisch – den von gestern – setzte, war er erst der zweite Gast, trotz der
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