Der Gerechte
spielen.
Man durfte sich nicht über andere erheben!
Das hatte ich gelernt, so dachte ich, so würde ich immer denken, und so mußte ich auch denken bei einer derartigen Aufgabe, die Suko und ich übernommen hatten.
»Es hat keinen Sinn«, sagte mein Freund.
»Was meinst du damit?«
»Daß du dir über Raniel den Kopf zerbrichst.«
»Tue ich das denn?«
»Sicher. Das sehe ich dir an.« Suko lachte leise. »Wir kennen uns gut genug, John, und ich weiß inzwischen, was in deinem Kopf vorgeht, weil ich ähnlich denke.«
»Da magst du recht haben.«
Das Telefon meldete sich. Wir schraken zwar nicht zusammen, doch unsere Sitzhaltung wurde angespannter.
Da ich fuhr, überließ ich es Suko, abzuheben. Er hatte sich kaum gemeldet, als er auf Lautsprecher umstellte, damit auch ich die Stimme unseres Chefs, Sir James, hören konnte.
Obwohl der Empfang nicht so klar war wie bei einem normalen Telefongespräch, hörten wir deutlich die Besorgnis in seiner Stimme, zusammen mit einer gewissen Anspannung.
»Sie sind noch unterwegs, nehme ich an.«
Suko antwortete: »Einige Meilen vor dem Ziel, Sir, aber wir werden es schaffen.«
»Dann hören Sie zu.«
Was er uns in den folgenden Minuten sagte, ließ uns blaß werden. Die Worte sorgten zudem bei mir für eine Verringerung des Tempos, und ich merkte auch, wie sich bei mir eine Gänsehaut in den Nacken hineinstahl, denn was in London passiert war, konnte von uns kaum nachvollzogen werden. Fire-Johnson hätte fast einen Massenmord begangen, wenn nicht jemand anderer eingegriffen hätte.
»Ein Engel«, sagte Sir James mehrmals. »Oder ein Geist, das überlasse ich Ihnen.«
»Der Junge hat ihn gesehen?« fragte Suko nach.
»Ja, nur er.«
»Warum nicht die anderen?«
»Keine Ahnung. Ich werde es noch herausfinden. Vielleicht lag es am Schock oder an seinem Unterbewußtsein, daß sich gegen gewisse Dinge einfach sperrte. Das überlasse ich jedoch Ihnen, und ich überlasse Ihnen ebenfalls die Entscheidung, wie Sie den Fall weiterführen wollen.«
Suko hatte die Worte nicht so recht begriffen. Er warf mir einen hilfesuchenden Blick zu, den ich nur in der gleichen Art zurückgeben konnte.
»Können Sie sich etwas deutlicher ausdrücken, Sir?« bat mein Freund ihn.
»Sicher, gern sogar. Ich frage mich, ob es Sinn hat, daß Sie bis Headcorn fahren. Möglicherweise sind Sie hier in London besser aufgehoben und können Spuren aufnehmen.«
Was unser Chef da sagte, war nicht ganz von der Hand zu weisen, und ich überlegte auch hin und her.
Suko schüttelte den Kopf.
Ich nickte.
Wir hörten wieder die Stimme. »Haben Sie sich entschieden?«
Suko räusperte sich kurz. »John und ich sind zu dem Entschluß gekommen, daß wir die Reise fortsetzen werden. Die Sache ist ja leicht zu überblicken. Wenn ich daran denke, daß dieser Raniel sich als Geist bewegt, dann sollten große Entfernungen für ihn kein Problem sein. Dann könnte er sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne von einem Ort zum anderen bewegen und mit einem Gedankensprung die Distanz zwischen London und Headcorn überbrücken.«
»Das ist nicht von der Hand zu weisen«, gab Sir James zu. »Gut, dann fahren Sie bitte weiter. Hinzu kommt noch etwas: Jetzt, wo Sie wissen, was hier passiert ist, werden Sie sicherlich die Einstellung zu Raniel überdenken, schätze ich.«
Da hatte er einen Finger auf die Wunde gelegt. Suko schaute mich an. Ich nickte und hob gleichzeitig die Schultern, und er kleidete meine Bewegungen in Worte.
»Wir sind uns noch nicht sicher, Sir. Ich nehme sogar an, daß die Unsicherheit auch weiterhin bleiben wird, bis wir Raniel gegenüberstehen und von ihm die passende Antwort bekommen haben. Wir jedenfalls werden darauf drängen, daß er sein Geheimnis lüftet. Außerdem kann er uns unmöglich als seine Feinde ansehen. Irgendwo bewegen wir uns ja auf derselben Ebene.«
»Davon sollte man ausgehen«, gab Sir James Suko recht. »Hoffentlich denkt Raniel auch so.«
»Sie trauen ihm nicht?«
»Das kann ich nicht sagen, dafür kenne ich ihn zuwenig. Es gibt gewisse Dinge, die müssen erst abgeklärt werden. So zielstrebig, wie er seinen Weg geht und er auch eingegriffen hat, wird es nicht leicht sein, ihn davon abzubringen oder nur davon zu überzeugen, daß er auch einen Mord begangen hat.«
»Er nennt sich der Gerechte, Sir.«
»Das weiß ich leider.«
»Wir werden jedenfalls dieser Mühle einen Besuch abstatten. Dort müßten wir mehr erfahren.«
»Ich hoffe es.« Er räusperte sich.
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