Der Geruch von Blut Thriller
»Roz? Roz?«
Finn kann sich nicht helfen, er hat das Gefühl, dass auf der anderen Seite jemand ist, genau auf Augenhöhe, jede seiner Bewegungen nachahmt und, genauso intensiv wie er, auf irgendein Geräusch des Feindes horcht.
D ie Anlage in den Gemeinschaftsräumen im zweiten Stock ist voll aufgedreht. Neben der Fernsehecke, dem Partyraum und einer Küche mit Kochplatte und Mikrowelle gibt es einen Eingangsbereich mit teuren Futons, wo die Mädchen rumliegen und lernen können. Als würden sie das tun.
Ohne dass ihn jemand bemerkt, sinkt Finn in die Kissen und hört durch die laute Musik hindurch, wie sich im anderen Raum James Stewart mit Mr. Potter streitet. Die Songs sind Rockversionen von Weihnachtsklassikern, dieselben, die er gehört hat, als er so alt war wie sie. Das überbrückt ein wenig die Kluft zwischen ihnen, und er kommt sich nicht mehr ganz so alt vor.
Die Mädchen schnattern wild durcheinander. Er versucht, die Stimmen auseinanderzuhalten. Es sind nur drei. Jesse Ellison und die beiden Smyths. Es ist erstaunlich, wie anders sie klingen als im Unterricht oder überhaupt in Gegenwart von Erwachsenen.
Er hört ihnen zu und saugt sie förmlich ein. Die fruchtigen Seifen, Aknecremes, pflanzlichen Körperlotionen, das Haarspray, die Parfüms, ein Hauch von Kirschlippenstift, Puder. Sie erfüllen ihn.
James Stewart bricht mitten im Satz ab. Die Musik läuft weiter. Mit einem schadenfrohen Seufzer erklärt Jesse: »Die Leitung ist tot.«
Finn bekommt mehr mit, als sie ahnen. Wenn sie sich im Unterricht Zettel zuschieben, durch die Klasse
schleichen, hinausschlüpfen, sich hinter vorgehaltener Hand etwas ins Ohr flüstern, mit den Augen rollen und Grimassen schneiden. Sie leben sich aus, und er tut so, als bekäme er nichts mit. Es ist, als ständen sie auf der Bühne und spielten für die eine Person in der siebten Reihe Mitte. Er lässt ihnen den Spaß. Schüler müssen ihren Lehrer verarschen, und er ist ein leichtes Opfer. Jeder hat das Recht, den Outlaw zu spielen, solange er sich nicht beschwert, wenn er erwischt wird.
Ein beruhigender Gedanke, der einen Großteil seines Lebens ins rechte Licht rückt, vor allem jetzt, während er die Gruppe belauscht. Es hängen eine Menge Raumspray und Räucherstäbchen in der Luft, aber er riecht trotzdem den billigen Whiskey in ihrem Atem und den süßlichen Gestank von ein paar Joints. Es wundert ihn, dass Caitlin und Lea nicht dabei sind. Er hört ihre kindischen Gespräche mit an, die schlechte Grammatik, die selbstverliebten Dialoge. Irgendwie macht es ihn ein bisschen glücklich.
Als Finn den Raum betritt, gibt es ein wildes Herumgewusel und dann einen allgemeinen Seufzer der Erleichterung. Immerhin hätten es auch Judith oder Duchess sein können. Aber Finn stellt keine große Bedrohung dar.
Suzy Smyth sagt: »Alles in Ordnung, es ist nur unser lieber Herr Lehrer.«
»Er hat sicher nicht vor, unsere kleine Feier zu beenden«, ergänzt Sally. »Er ist einfach ein später Gast, nicht wahr, Mr. Finn?«
»Hoffentlich gilt die Einladung noch.«
»Für Sie den ganzen Abend.«
»Meine Damen, darf ich euch einen Rat geben? Legt lieber ein paar Dollar drauf und kauft euch einen Single Malt. Und stellt eine Wache vor der Tür auf.«
Die drei brechen in Gelächter aus. Jesse Ellison ist völlig überdreht. Vielleicht ist sie angetrunken und bekifft, vielleicht versucht sie, sich interessant zu machen. Wenn er als Jugendlicher betrunken war, versuchte er, wie sein Vater zu klingen, und sie hält sich wahrscheinlich an ihre Mutter.
Sie weiß, dass er laute Musik hasst, und dreht die Anlage leiser. Sie kommt auf ihn zu. Sie hat ihre Verletzung behandeln lassen. Er riecht sie nicht mehr. Die Vergangenheit flackert kurz auf, als könne sie jederzeit durchbrechen. Ein Tropfen Blut würde genügen.
»Ziehen Sie den Mantel aus, Mr. Finn. Möchten Sie etwas trinken?« Sie drückt ihm einen Styroporbecher gegen die Brust, aber er nimmt ihn nicht an. Egal, wie tief er schon im Schlamassel steckt, es ginge noch tiefer. Er lässt den Mantel an.
»Trotzdem danke, Jesse.«
»Das ist nur Eierlikör.«
»Aber ihr trinkt Bier. Irgendeine lokale Sorte.«
»Meine Güte, Mr. Finn …«
»Und Four Roses. Das Zeug ist schlimm. Das war schon zu meiner Zeit so. Macht nicht denselben Fehler.«
»Also wirklich, Mr. Finn!«
»Was anderes haben wir nicht bekommen«, sagt Suzy.
»Und ich dachte, ich müsste das Fass besorgen. Ihr habt euch wohl einen kleinen Vorrat
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