Der Geruch von Blut Thriller
Wehen.
In seinem ersten Jahr bei der Polizei gab es Tage, an denen er mit dem Schlagstock halberfrorene Obdachlose von den Straßen holen und ins Nachtasyl oder irgendwohin, wo es warm war, treiben musste. Manchmal klopfte er eine zentimeterdicke Eisschicht vom Gesicht eines Toten, an dessen Seite ein toter Hund klebte. Nie war er der Erste. Immer waren die Schuhe weg, die Hosentaschen ausgeleert, die Flasche leer. Er durchkämmte den Park und folgte dem Geruch von brennendem Abfall bis zu einer Mülltonne unter einer Steinbrücke bei der Eisbahn, um die eine vierköpfige Familie kauerte. Die Kinder sahen ihn aus ihren aschfarbenen Augen an, als wäre er entweder der Weihnachtsmann oder der
Teufel. Er gab ihnen ein paar Dollar und irgendwelche gesunden Snacks, mit denen Dani ihm die Taschen vollgestopft hatte - Müsliriegel, Rosinen, Sonnenblumenkerne -, und die Eltern teilten es auf, als wäre es das Weihnachtsessen. Die Eltern waren entweder arbeitslose Arschlöcher, Drogendealer auf der Flucht oder einfach illegale Einwanderer, die zur falschen Zeit rübergekommen waren, wenn selbst die Sweatshops überbesetzt waren. Finn hielt ihnen entweder eine Predigt, hörte ihnen zu oder rief die Einwanderungsbehörde. Wenn er abends nach Hause kam, fragte ihn Dani: Wie war’s heute im Kampf gegen das Böse?
Ein kräftiger Windstoß schüttelt ihn durch. Er umklammert seinen Stock. Die Sonne ist untergegangen. Seine Augen brennen vom Schnee, er hält die Hand zum Schutz davor. Auch wenn sie nutzlos geworden sind, passt er immer noch auf sie auf. Er nimmt Kochsalztropfen, macht Übungen, damit die Muskeln nicht verkümmern und versucht, die Blickrichtung zu kontrollieren. Es sind immer noch seine Augen, und das gibt ihnen so etwas wie einen Sinn.
Finn läuft weiter, unter dem Bogen durch, wo das Windspiel des Torhauses hängt. Die Rohre sind verheddert und klingeln durcheinander. Er war seit Jahren nicht in der Kirche, aber Glocken gibt es überall.
Eigentlich ist es egal, aber aus irgendeinem Grund doch wieder nicht. Er schwenkt den Stock und schlägt leicht gegen die Rohre. Sie lösen sich nicht. Er schlägt kräftiger, von oben nach unten, macht es aber nur noch schlimmer. Eine nicht enden wollende Disharmonie. Er ist einfach zu nichts zu gebrauchen. Wutentbrannt stößt er einen erstickten Frustschrei aus.
Mit der Schulter drückt er die Tür zum Mädchenwohnheim auf und tritt ein.
Der Wind bläst so stark, dass das Klavier im Eingangsbereich einen tiefen, unangenehmen Akkord von sich gibt. Es klingt zornig. Böswillig. Er stellt sich vor, wie es sich aufbäumt und lostrampelt, um jemanden zu beißen. Er wendet sich ihm zu, wie um ihm zu sagen, es solle sich entspannen und verdammt nochmal die Schnauze halten. Und wieder muss er an seine Psychiaterin denken.
An ihre ausdruckslose Stimme, mit der sie ihm erzählt: Es sei normal, völlig normal, ihr keuchender Atem, wenn sie fast hechelt: in seiner Situation, schmatzt und immer wieder schluckt, ihre orale Fixierung ist so offensichtlich: unter diesen Umständen, Dinge zu personifizieren. Womöglich hat sie einen Machttick gegenüber Behinderten. Er stellt sich vor, wie sie mit aufgerissenen, dunklen Augen die Stümpfe amputierter Gliedmaßen streichelt, halb wahnsinnig vor Verlangen.
A ls Finn die Treppe hinaufsteigt, hört er über sich Stimmen. Lea Grant und Caitlin Jones unterhalten sich im Flüsterton. Er vernimmt die Worte »Angst«, »abraten«, »kaputte Wirbelsäule«. Außerdem ist die Rede vom »Reich des Diskurses« und der »sehnsüchtigen Lyrik der Verdammten«.
Vergeblich versucht er herauszufinden, welches Gesprächsthema all dies oder auch nur einen Teil davon beinhaltet. Er mag ihre Unberechenbarkeit in bestimmten Dingen. Sie sind seine beiden besten Schülerinnen, aber soweit er weiß, interessiert sich keine von beiden auch nur einen Scheißdreck für Literatur oder die englische Sprache oder sonst irgendetwas. Ihr Leben war vorbestimmt, noch bevor sie geboren wurden, und das nächste Ziel erreichen sie erst mit zirka zwanzig, wenn sie, wie Vi, mit einem reichen Blaublüter verheiratet werden, der auf der Überholspur einer Machtposition in der Hochfinanz oder Politik zustrebt.
Finn glaubt, dass sie wie Vi noch rücksichtsloser und gemeiner sind, als sie es irgendjemand anderem, abgesehen von sich selbst, zeigen. Anzeichen dafür bemerkt er immer wieder. Wie sie auftreten, wie beherrscht sie sind, mit einer Überheblichkeit, die gar nicht so
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