Der Geruch von Blut Thriller
zugeschneit, aber er weiß, wo er langgehen muss, hört das verknotete Windspiel, weiß genau, wo er ist. Immerhin etwas.
Obwohl seine Stimme kaum weit zu hören sein wird, hat er das Bedürfnis, ihren Namen zu rufen. »Harley! Harley!« Er kommt ihm immer noch fremd vor. Dann, als würden sich dadurch seine Chancen erhöhen, versucht er es mit: »Moon! Moon!« Er klingt wie ein Vollidiot. »Roz! Roz?«
Er muss weiter. Die Temperatur sinkt. Und er hat nicht mal eine seiner albernen Mützen auf.
Drei Jahre ist er jetzt an diesem Ort, und noch immer hat er sich nicht an das Leben hier gewöhnt. Tagelang buddeln sich die Leute durch. Die Gemeinde lässt sich alle Zeit der Welt, um sie auszugraben. Wenn man
in Manhattan kurz verschnaufen will, wird man von zirka fünfhundert Leuten umgemäht. Wenn in drei Stunden ein Meter Schnee fällt, fahren ihn die Taxis trotzdem zu Matsch. Der Fußgängerverkehr hört nie auf.
Wenn es hier oben im Frühling taut, kommen Leichen zum Vorschein, die drei oder vier Monate eingefroren waren, teilweise nur zwanzig Meter von ihrem Haus entfernt. Dann kommt irgendein Kerl an und sagt: O yeah, das ist Boomer, der Sohn von mei’m Bruder Augie, hab mich schon gefragt, wo der hin ist, wir ham noch auf das Stück Wild gewartet, das er uns versprochen hat.
Als Finn zum Haupthaus kommt, hat er Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen. Erst glaubt er, sie sei verschlossen, aber schließlich gibt der Riegel nach. Bei dem Wetter lästern die Leute gern über den Denkmalschutz, der die ursprüngliche Konstruktion und Bauweise von St. Val’s erhalten will. Unter den kosmetischen Eingriffen und der notwendigen Aufrüstung steckt jahrhundertealter Verschleiß.
Man kann spüren, wie das Hotel zu neuem Leben erwacht. Kaum ist man drinnen, sieht man Rutherford B. Hayes Schulter an Schulter neben einem stehen.
Die Tür des Schwesternzimmers ist abgeschlossen. Der Knauf ist kalt. Hier ist schon eine Weile niemand gewesen.
Am Treppenabsatz stolpert er über die Schieferplatten und stampft zweimal wütend auf. Er muss endlich etwas tun. Er hält sich am Geländer fest, steigt die Stufen hinauf und horcht auf das Flüstern im Holz.
Ein Geräusch im ersten Stock treibt ihn voran. Endlich, denkt er, hier sind sie, Roz, Duchess, Harley, Violet. Seine Welt ist klein. Er fragt sich, wie weit sie noch schrumpfen kann.
Als er sich seinem Büro nähert, hört er plötzlich ein Stöhnen: Roz, bist du das? Hat auch dich jemand geschlagen? Läufst du mit blutender Stirn durch die Flure und suchst nach mir?
»Wer ist da?«, fragt er.
Keine Antwort.
»Roz? Bist du es?«
Ein kurzes feuchtes Husten, fast wie ein Wort.
Er geht einen Schritt darauf zu.
»Wer ist da?«
Er hört seinen Namen.
»Finn.«
Es klingt wie Vi.
»Violet?«
»Finn.«
Er tritt noch ein Stück vor und wird von einem Nebel sich vermischender Gerüche umfangen. Sperma, Schweiß und Angst, so intensiv, dass er augenblicklich den Kopf zurückreißt, würgt und aufschreit.
Und unter all dem der Geruch von Blut.
Er hält sich die Hand vor die Nase. »Ah …« Finn gerät ins Wanken und umklammert knurrend seinen Gehstock. »Vi? Was ist?«
»Nein, Finn, gehen Sie weg …«
»Himmel«, zischt er und spürt den Zorn von Howie, dem Stiernacken, in seinen Eingeweiden rumoren.
Das Ende ist da, und du weißt es.
Vi wimmert: »Laufen Sie, Finn. Laufen Sie weg.«
Sie kann nicht deutlich sprechen. Ihre Stimme ist vom Schmerz verzerrt. Sie liegt zusammengekauert vor seiner Tür auf dem Boden. Finn kniet sich neben sie und berührt ihr angeschwollenes Gesicht. Ihre Lippen sind
aufgeplatzt. Sie wurde geschlagen und blutet aus der Nase. Das Blut droht ihn mitzureißen. Er sieht sie so, wie er es in Hunderten von Fällen häuslicher Gewalt gesehen hat, die Augen vor Angst verdreht.
»Schh, schh, jetzt ist alles gut, Violet.«
»Sie müssen hier weg. Sie müssen …«
»Was ist passiert?«, fragt er, nicht sicher, ob er wirklich mit ihr spricht. Etwas in ihm versucht, ihn zu warnen. Er streckt die Hand aus, und sie ergreift sie und hält sie fest. Zwei Fingernägel sind gebrochen.
»Sie wollen Sie«, sagt Vi zu ihm. »Laufen Sie.«
»Wer war das?«
»… laufen Sie weg, Sie müssen hier verschwinden.«
»Nein.«
»Gehen Sie weg. Los.«
»Sag das nicht.«
»Sie sind zu zweit, Finn.« Ihre Stimme ist angespannt. Sie gurgelt Blut, es sprudelt gegen ihre Zähne. Ihre Hand krallt sich fest und zieht ihn zu sich ran. »Sie haben Messer. Es sind
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