Der Gesandte der Götter (German Edition)
Sich dicht hinter den Soldaten haltend, gelangte sie ins Schloss. Sie schlug den Weg zu den Verliesen ein, die Menas ihr tatsächlich eines Tages gezeigt hatte. Er hatte ihr scherzhaft – wie sie damals glaubte – gedroht, sie dort einzusperren, wenn sie ihn weiter so kühl behandelte. Damals hatte sie herzlich über seinen vermeintlichen Scherz gelacht und er hatte in ihr Lachen eingestimmt. Doch heute erinnerte sie sich, dass sein Gelächter einen grausamen Unterton gehabt hatte, der sie hatte schaudern und verstummen lassen. Sie hatte sich für ihre törichte Angst geschämt, und als er ihr lächelnd den Arm geboten hatte, glaubte sie, sich getäuscht zu haben. Nun wusste sie genau, dass er Ernst machen würde, sollte sie ihm in je wieder in die Hände fallen.
Mit klopfendem Herzen, sich ständig nach allen Seiten umsehend, ging sie auf die Treppe zu, die hinab in die Gewölbe führte. Die Tür zum Abgang der Treppe stand offen. Sie wunderte sich darüber, denn normalerweise war sie fest verriegelt. Leise stieg sie die Treppe hinunter. Ihre Hand, die das Medaillon um ihren Hals fest umklammert hielt, war feucht vor Aufregung. Mit der anderen Hand tastete sie nach Rotrons Schlüssel und den beiden anderen Medaillons.
Als sie den Gang entlang schlich, hörte sie plötzlich Stimmen. Dann folgt das klatschend Geräusch einer Peitsche und das Stöhnen eines Mannes. Auf einmal erklang Leoris‘ zornige Stimme, doch Loara konnte nicht verstehen, was er rief. Sie huschte näher und sah zwei Wachen, die in einiger Entfernung vor einer Kerkertür standen. Lautlos schlüpfte sie an ihnen vorbei und blickte in das Verlies. Nur mit Mühe konnte sie einen Schrei unterdrücken, denn was sie sah, erfüllte sie mit Entsetzen.
Menas stand vor Leoris, dessen Gesicht von Peitschenhieben gezeichnet war. Und an der gegenüberliegenden Wand hing Chiron in seinen Ketten. Sein Rücken war übersät mit Striemen und das Blut lief in dünnen Rinnsalen an ihm herab. Xoras stand an einen Pfeiler gelehnt und sah der Szene mit befriedigtem Lächeln zu.
Menas sagte gerade: „Das habt Ihr nun davon, dass Ihr Euch in Dinge einmischt, die Euch nichts angehen, Leoris! Noch eine solche Frechheit, und Ihr werdet genauso aussehen wie er.“
„Ich bitte Euch, Leoris, schweigt!“ stöhnte Chiron. „Ihr könnt mir nicht helfen und schadet nur Euch selbst.“
„Wie Recht du hast, lieber Bruder!“ höhnte Menas. „Niemand kann dir helfen! Aber wenn du mir endlich sagst, wie du hier hereingekommen bist, werde ich dich vielleicht für heute in Ruhe lassen.“
„Das wirst du nie erfahren“, knirschte Chiron, „und wenn du mich totschlägst!“
„Nein, totschlagen werde ich dich nicht, das wäre zu einfach“, antwortete Menas. „Aber für deine Unverschämtheit sollst du noch ein paar Hiebe mehr bekommen.“
Wieder schlug Menas auf Chiron ein, bis dieser einen Schrei ausstieß und in seinen Ketten zusammenbrach. Voll ohnmächtiger Wut brüllte Leoris auf, und als Antwort zog Menas auch ihm die Peitsche noch einmal über den Körper. Dann wandte er sich ab.
„Komm, Xoras!“ sagte er. „Für heute habe ich genug von diesen wimmernden Weichlingen.“
Er schritt hinaus, gefolgt von dem Magier, der sich nochmals grinsend zu den beiden Gefangenen umblickte. Draußen salutierten die beiden Soldaten.
„Ihr bewacht die Tür“, befahl Menas ihnen, „aber bleibt von ihr fern, hört ihr? Es geht euch nichts an, was die beiden miteinander reden. Den Schlüssel nehme ich mit.“ Dann verschwand er mit Xoras die Treppe hinauf.
Loara hatte die ganze Zeit die Hände vor den Mund gepresst, um nicht zu schreien. Nun jedoch zwang sie sich zur Ruhe. Leoris und Chiron mussten so schnell wie möglich gerettet werden. Doch was sollte sie tun? Wenn die Wachen sie selbst auch nicht sehen würden, das Öffnen der Tür würde ihnen nicht entgehen. Ihr blieb keine andere Wahl: Sie musste die Männer töten!
Die beiden Soldaten hatten es sich in einiger Entfernung von der Tür auf dem Boden bequem gemacht, und der eine holte ein Kartenspiel aus der Tasche. Loara zog ihren Dolch. Leise schlich sie hinter einen der Männer und stieß ihm den Dolch mit aller Kraft in den Rücken. Sofort zog sie die Waffe wieder zurück. Ohne einen Laut fiel der Mann zur Seite. Erschrocken beugte sich der andere über ihn. Da stieß auch Loara auch diesen nieder. Mit einem Seufzer hauchte der Wächter sein Leben aus. Loara wurde übel.
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