Der Gesandte der Götter (German Edition)
Leoris.
„Menas liebt Loara, vergesst das nicht“, antwortete Chiron. „Niemand kann sagen, ob er ihr etwas angetan hätte.“
„Aus einem Wolf wird kein Lamm!“ widersprach Leoris. „Menas ist grausam und boshaft, und irgendwann hätte auch Loara das erfahren müssen. Ihn haben die Schönheit und der Stolz meiner Schwester gereizt. Doch wenn er ihren Stolz gebrochen gehabt hätte, wäre sein Interesse an ihr schnell erloschen und er hätte sich ein neues Spielzeug gesucht. Nein, Chiron, was Ihr auch getan habt, Ihr habt Loara vor weit Schlimmerem bewahrt. Und dafür bin ich Euch dankbar, wenn ich Euch auch wegen Eures Vergehens zürne. Doch lieber will ich mein Leben im Kerker enden, als dass meine Schwester das Schicksal Eurer Braut teilen muss. Ich habe Menas nie getraut. Er ist die Wurzel allen Übels, ob die Götter es so sehen wollen oder nicht. Wenn sie jetzt noch zulassen, dass Menas Euch tötet, kann ich nicht mehr glauben, dass die Götter wissen, was sie tun, und das alles, was mit den Menschen geschieht, dem Ratschluss der Götter entspringt. Ihr habt ein Unrecht begangen, ja, aber wenn es danach geht, dass ein Unrecht bestraft werden soll, welche Qualen müsste dann erst Menas erleiden, statt sich Eurer Macht und Eures Throns zu erfreuen und damit die Götter zu verspotten?“
„Vielleicht habt Ihr Recht, Leoris“, antwortete Chiron. „Und doch kann ich den Göttern nicht zürnen. Zweimal haben sie mich aus dem Kerker befreit, und ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als wieder hineinzulaufen. Vielleicht wollen sie nicht, dass ich versuche, die Krone zurückzugewinnen, und ich habe ihren Willen nicht erkannt. Deutlich genug aber haben sie mich vor falscher Rache gewarnt. Daher will ich mich nicht länger gegen das Schicksal auflehnen, dass sie nun über mich verhängen werden. Zu viel Unglück habe ich durch meine Fehler über andere gebracht. Und wenn es Euch irgendwann gelingen sollte, aus dem Wissen um den Geheimgang Nutzen zu ziehen, so war mein Tod nicht ganz vergebens.“
Das viele Sprechen hatte Chiron angestrengt. Ermattet ließ er sich auf den Boden niedersinken und schloss die Augen. Leoris konnte nicht erkennen, ob er schlief oder erneut das Bewusstsein verloren hatte.
Schon kroch die Dunkelheit aus den Winkeln des Kerkers, und der helle Schein, der aus dem Schacht hoch oben in der Wand gedrungen war, wich dem Grau der hereinbrechenden Nacht, als Chiron sich wieder rührte.
„Seid Ihr wach, Chiron?“ fragte Leoris.
„Ja!“ kam die schwache Antwort aus Chirons Richtung.
„Wenn ich daran denke, dass diese beiden Ungeheuer gleich wieder erscheinen werden, um Euch zu peinigen, könnte ich vor Wut ersticken“, sagte Leoris gepresst.
„Ich kann Eure Gefühle gut verstehen“, seufzte Chiron. „So etwas hilflos mit ansehen zu müssen, ist fast so schlimm, wie es selbst zu ertragen. Und ich muss Euch gestehen, dass … dass ich Angst habe vor dem, was gleich mit mir geschehen wird. Doch sorgt Euch nicht! Menas wird das Geheimnis nicht aus mir herausbringen. Ich bitte die Götter nur noch um das eine: Dass sie mir die Kraft geben, auch Xoras zu widerstehen!
Lange saßen die beiden schweigend in der kalten Finsternis des Kerkers und lauschten mit bangem Herzen. Und auf einmal hörten sie das harte Geräusch sich nahender Schritte und der Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Geblendet blickten Chiron und Leoris in das Licht der Fackeln.
Menas stand in der Tür, in der Hand die Peitsche!
6. Die Befreiung
Lange Zeit hatte Loara am Burgtor gestanden. Sie hoffte inständig, jemand möge hinauskommen oder Einlass begehren, so dass ihr eine Möglichkeit geboten würde, mit hinein zu schlüpfen. Je mehr Zeit verstrich, desto verzweifelter wurde sie. Was konnte in der Zwischenzeit mit Chiron alles geschehen sein? Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass er bereits in die Burg eingedrungen war und sich in Menas‘ Händen befand.
Quälend langsam verrann die Zeit und sie war schon versucht, ihren Posten am Tor aufzugeben und nach dem Gang zu suchen, als sie plötzlich das Geräusch von Pferdehufen vernahm, die den Weg zur Burg hinaufkamen. Sie wich ein wenig zur Seite, um nicht durch Zufall von einem der Reiter umgestoßen zu werden und womöglich die Kapuze zu verlieren. Es waren einige von Menas‘ Soldaten, die von einem Auftrag zum Schloss zurückkehrten.
Als die Wächter das Tor öffneten, huschte Loara schnell mit hinein.
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