Der Gesandte der Götter (German Edition)
Sie hatte noch nie einen Menschen getötet. Doch sie riss sich zusammen, denn hier hatte es keine andere Möglichkeit gegeben. Schaudernd vergewisserte sie sich, dass beide tot waren. Dann nahm sie Rotrons Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Kerkertür. Leoris hob den Kopf, als er sah, dass die Tür aufging. Er befürchtete, Menas habe es sich anders überlegt und sei nochmals zurückgekommen. Doch niemand erschien im Türrahmen. Da streifte Loara die Kapuze ab.
„Loara!“ stammelte Leoris. „Welcher Dämon will mich narren? Du kannst unmöglich Loara sein!“
„Leoris!“ Mit einem Schluchzen hing Loara am Hals ihres Bruders. „Ich bin es wirklich“, sagte sie dann hastig. „Doch jetzt ist keine Zeit, es dir zu erklären. Wir müssen schnell hier fort, ehe man mich entdeckt. Warte, ich öffne deine Fesseln!“ Mit dem kleinen goldenen Schlüssel öffnete sie Leoris‘ Ketten und zog dann eines der Medaillons hervor. „Hier, häng das um!“ wies sie den Bruder an. „Es schützt dich vor Entdeckung durch Xoras. Und dann hilf mir! Wir müssen Chiron befreien. Ihr Götter! Was haben sie nur mit ihm gemacht?“
Gemeinsam hoben sie Chirons schlaffen Körper von dem Haken. Loara nahm auch ihm die Ketten ab, während Tränen über ihre Wangen liefen.
„Doch wie kommen wir jetzt hinaus?“ Loara war ratlos. „Chiron ist bewusstlos und kann uns den Weg zum Geheimgang nicht zeigen. Außerdem, wie sollen wir den Verwundeten fortschaffen?“
„Du weißt von dem Gang?“ staunte Leoris, der sich noch immer nicht von seiner Verblüffung, Loara hier zu sehen, erholt hatte. Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, rasch und ohne Zögern zu handeln. „Wer hat dir davon erzählt?“ wollte er wissen, während er Chiron auf seine Schulter lud. „Ich glaubte, nur Chiron kenne ihn. Aber egal, das kannst du mir später erzählen. Wir müssen erst heraus! Komm, ich kenne den Gang. Chiron hat mir das Geheimnis verraten. Nie hätte ich gedacht, dass ich es so bald würde verwenden können.“
„Warte, Leoris!“ sagte Loara. „Ehe wir gehen, muss ich auch Chiron ein Amulett umhängen, sonst weiß Xoras sofort, dass wir fliehen.“ Sie befestigte die Kette eng um Chirons Hals, damit sie dem Bewusstlosen nicht verloren gehen konnte. Dann eilten die Geschwister aus dem Kerker.
„Kannst du die Tür wieder verschließen?“ fragte Leoris mit grimmigem Lächeln. „Das würde den beiden Schurken etwas zu raten geben.“
Eilig verschloss Loara die Tür und nahm eine der Fackeln von der Wand. Dann lief sie hinter Leoris her, der mit Chiron auf den Schultern davonhastete. Leoris hatte Chirons Beschreibung aufmerksam zugehört und fand darum schnell die Stelle, an der der Verschlussstein des Geheimgangs war. Er drückte dagegen und der Mauerteil schwang kaum hörbar zurück. Leoris ging voran, und Loara schloss hinter ihnen die Tür mit dem Hebel. Nun würde nichts mehr den Weg verraten, den sie genommen hatten. Da Loara die Fackel trug, übernahm sie nun die Führung. Leoris war ein kräftiger Mann, aber dennoch wurde Chirons Last für ihn fast zu viel. Der lange Aufenthalt im Kerker bei karger Kost machte sich bemerkbar, und die mangelnde Bewegung hatte seinen Gliedern die Geschmeidigkeit genommen. Aber der unbändige Wunsch nach Freiheit trieb ihn voran.
Chiron hatte sich die ganze Zeit nicht gerührt. Doch Leoris glaubte auch nicht, dass er aus eigener Kraft hätte laufen können. Menas hatte ihm übel mitgespielt.
Leoris merkte, dass Chirons Blut immer noch aus den Striemen auf sein Hemd tropfte. Er hoffte inständig, dass die Blutstropfen nicht auf den Boden gefallen waren und so eine Spur hinterlassen hatten. Nun hatten sie die Stelle erreicht, wo der große Felsbrocken heruntergestürzt war.
„Auch das noch!“ stöhnte Leoris erschöpft. „Wie sollen wir Chiron nur da vorbeibekommen? Es hat keinen Sinn, es zu versuchen, solange er nicht wieder zu sich gekommen ist. Ich habe nicht mehr die Kraft, seinen schweren Körper durch den Spalt zu ziehen.“ Er ließ Chiron sachte auf den Boden gleiten und warf sich dann selbst völlig ausgepumpt daneben.
„Du musst dich ausruhen und wieder Kraft schöpfen“, sagte Loara. „Wir wissen nicht, wie lang der Gang noch ist und wie weit du Chiron womöglich noch tragen musst. Ich werde mich in der Zwischenzeit um ihn kümmern.“
Sie kniete neben Chiron nieder. Als sie seinen Kopf hochhob, öffnete er die Augen. Tiefes
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