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Der Gesang der Haut - Roman

Der Gesang der Haut - Roman

Titel: Der Gesang der Haut - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Picus-Verlag
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wieder vor sich und erschrak: Er laserte an Klaras Gesicht. Endlich kam der Zug, endlich stieg sie aus und alle farbenreichen Reisenden wurden zu schwarzgrauen Randfiguren: Trotz des anthrazitgrauen Mantels stach Klaras Silhouette aus der Menge hervor, der holpernde rote Koffer, den sie hinter sich herzog, wurde zum springenden Punkt des Gleises. Sie liefen aufeinander zu, umarmten sich keuchend. Dann ging ihr Atem wieder langsamer, jeder ließ seinen Kopf kurz auf der Schulter des anderen ruhen (sie sah die Unendlichkeit der sich in der Ferne verlierenden Schienen, er sah ins Loch einer Unterführung), ihr Haar roch nach Zug und Flieder. Ihr ich liebe dich liebe dich liebe dich floss warm in seine erfrorenen Ohren und ließ alle Tage der Trennung wegschmelzen.
    Jetzt war der Abend schlicht und animalisch schön: Sie legte ihre warmen Hände mit den fein manikürten Nägeln an sein Gesicht und freute sich dreisprachig: Miluji tě, ich liebe dich, je t’aime.
    Sie stimmten sich auf ihr Wochenende in einem guten italienischen Restaurant ein. Gebeugt über ihre Scampi, summte sie ihm ein Lied vor, das sie mit ihren Schülern übte. Ihre Liebe war bis spät in die Nacht ein fortwährendes Belcanto und noch bis in den nächsten Tag, denn Viktor hatte erfolgreich die Einladung bei Gerlachs verdrängt. Er fand nicht den Mut, ihre harmonische Eintracht zu trüben: Selten war Klaras Stimmung so unbeschwert und die gemeinsam verbrachte Zeit so kurz. Am späten Vormittag gingen sie noch im Wald spazieren, die Temperaturen wurden milder, der Himmel klar. Schneeglöckchen lenkten sie tapfer vom Hundekot ab, ineinander verschränkt vermischten ihre linke Hand und seine rechte ihre Lebens-Herz-Linien, sie hoben gemeinsam die Augen und schauten, wie die Fichtenspitzen ihnen entgegenkamen und ihre Liebe ins rechte Licht rückten. Viktor fühlte jedoch, dass kein Weg mehr an seinem Geständnis vorbeiführte. Sie war gerade dabei, eine Kindheitserinnerung zu erzählen. Im Zirkus hatte sie ein kleines Mädchen in ihrem damaligen Alter, neun oder zehn Jahre, in gold-rotem Kleidchen bewundert und beneidet, ein Mädchen, das auf einem laufenden Elefanten turnte und dem applaudiert wurde. Dieses Bild habe sie seitdem oft im Traum heimgesucht, das Mädchen sei dabei dasselbe geblieben, klein, schlank, anmutig, der Elefant war noch gewachsen, ein grauer Berg mit faltigen, schiefrigen Felsen, das Mädchen schwebte immer noch, lächelnd, ein Symbol für die spielerisch leichte Beherrschung aller Schwierigkeiten eines Menschenlebens, dachte Klara. Ah, ah, sagte Viktor, der an ihren Lippen hing, aber nicht wirklich zuhörte. Mit Charme und Humor, Schönheit und Kunst könne man den Berg der Schwierigkeiten überwinden. Nur Künstler könnten es. Ach, sagte Viktor, ich bin leider kein Künstler. Auf deine Art doch, antwortete Klara und verschränkte ihre Finger in seine.
    Er räusperte sich und probte noch schweigsam mehrere Einführungen in das Thema: Sich an die Stirn fassen und leger sagen, ach Mist, Klara, weißt du, was mir einfällt? Wir sind bei Gerlachs eingeladen, o Gottogottogott, ich habe es total verdrängt, was meinst du, ist es jetzt zu spät zum Absagen? Oder: Abwarten, bis sie fragt, was machen wir heute Abend, Däumchen? Und entspannt scheinheilig: Wir sind doch bei Gerlachs eingeladen, habe ich dir das noch nicht gesagt? Er suchte noch nach der idealen Formulierung, als er hörte: Sag mal, Viktor, du hast mir noch nichts von diesen Leuten erzählt, von denen du die Praxis übernommen hast, wie heißen die noch, hast du sie wieder gesehen? Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, als er die Wörter herausstieß, die ihm seit zwei Stunden auf der Zunge lagen: Ach, die Gerlachs! Klara, ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte, aber wir sind heute Abend bei ihnen eingeladen. Und er sah so übertrieben traurig, echt erbarmenswert aus, dass sie betroffen fragte: Ach, sind das so schlimme Leute? Er umarmte sie, versteckte sein Gesicht in ihrem Haar, murmelte, nee, so schlimm nicht, ein bisschen langweilig schon. Ich bin hundert Mal lieber mit dir allein, aber ich konnte irgendwie nicht ablehnen. Sofort fiel ihm Klaras »irgendwie«-Allergie ein, sie sägte »irgendwie« in jedem Satz ab und verlangte dafür einen neuen aussagekräftigen Inhalt.
    Und so war es auch diesmal: Was meinst du mit irgendwie, Viktor? Sind sie so einschüchternd? Hast du Angst? Mitleid? Schuldest du ihnen etwas? Ja, das auch, sagte Viktor, von

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