Der Gesang der Haut - Roman
des Raumes, die Verstörtheit ihrer Bewohner löste sich auf, Klaras Stimme ließ alle Befürchtungen und Verteidigungsstrategien zerschmelzen. Sie klatschten. Frau Gerlach brach als Erste das darauffolgende Schweigen und legte ihre Hand auf Klaras Schulter: Es hat gut getan, Ihnen zuzuhören, liebes Kind, was für ein Talent, was für eine Stimme, und was für eine wunderbare alte Melodie. Klara warf einen Blick auf die fremde Hand, wartete darauf, dass sie ihre Schulter losließ, um sich zu erheben. Sie stand ein bisschen steif und versuchte, kühl und klar zu artikulieren: Ein Lied aus dem achtzehnten Jahrhundert, sagte sie. Es wurde von Egide Martini komponiert, der übrigens ein Deutscher war, aus der Oberpfalz. Von ihm ist nur diese eine Melodie berühmt. Viktor hatte das Gefühl, dass sie etwas probte.
Tja, sagte Gerlach, man tut und macht und rackert sich ein Leben lang ab, und am Ende ist nur das Ergebnis einer einzigen Stunde Arbeit übrig, eine einzige Tat bleibt im Gedächtnis der Nachwelt, ein einziger Fehler, und, wenn man Glück hat, eine kleine Melodie. Ihr Oberpfälzer, liebe Klara, hätte nach dem Komponieren von Plaisir d’amour in den Ruhestand gehen können.
Immerhin hat er sich mit diesen paar Noten verewigt, sagte Viktor, und damit auch sein Tun gerechtfertigt.
Soll man denn sein Tun rechtfertigen, junger Mann? Ich habe zwar viele Menschen behandelt, allerdings frage ich mich manchmal, was ich der Nachwelt hinterlasse, man ist ja kein Künstler, hinterlässt kein Werk.
Behandelt, betonte Frau Gerlach, ist ein komisches Wort. Du hast sekundenschnell ein Kind gezeugt, und das ist doch mehr als eine Melodie!
Gerlach schaute auf seine Frau, als verstünde er ihre Worte nicht, ich habe Hunger, sagte er, wo bleibt das Essen?
Ich hole den Braten, antwortete Frau Gerlach. Ich hoffe aber, liebe Klara, sagte Gert Gerlach, dass Sie uns nach dem Essen mit einem weiteren Stück aus Ihrem Repertoire bezaubern.
Am Tisch saß Gert Gerlach Klara gegenüber und unterhielt sich ausschließlich mit ihr. Er ignorierte die Anwesenheit von Viktor und auch die seiner Frau, die nur ihren Teller anstarrte. Viktor versuchte sich vergeblich in das Gespräch einzumischen, jeder Einwurf wurde überhört. Musik und Philosophie, behauptete Gerlach, schließen sich gegenseitig aus. Philosophie gibt uns ein Quäntchen Hoffnung, irgendetwas von dieser perversen Welt zu verstehen (wer ist hier pervers?, blökte plötzlich Frau Gerlach und schien aus ihrer Echsenstarre zu erwachen), sie bleibt aber in diesen Bemühungen für den Durschnittsmenschen ganz und gar erfolglos, ignorierte Gerlach die Unterbrechung, während die Musik jeden über die Unmöglichkeit des Verstehens zu trösten sucht, sie verbindet uns mit allen Sinnen und mit unserer Seele zu einer Überwelt, über die zig Philosophen sich nicht einigen könnten. Pathetisch, seufzte Frau Gerlach, mein Mann wird selbst zum Philosophen, um uns zu erklären, dass Philosophie nichts taugt. Klara griff ein: Sie wisse außer Musik kein Fach, das sie sonst interessiert hätte, außerdem sei sie von Natur aus superfaul und wolle lieber Fächer mit wenigen Korrekturen unterrichten. Der Alte fragte, ob sie wirklich gern unterrichte, warum sie keine Karriere als Sängerin eingeschlagen habe, das wäre doch sehr schade, oder? Wenn man so ein Talent besäße, und so weiter. Klara begann ihre Geschichte zu erzählen, beantwortete Gerlachs Zwischenfragen gern und ausführlich. Der beklommene Viktor hörte auf zuzuhören, drehte sich zu Frau Gerlach und machte ihr Komplimente über den Sauerbraten. Dankbar erzählte sie, man müsse dafür Printen zerhacken, diese Aachener Spezialität sei ein hartes Honiggebäck, von dem bei schlechten Zähnen abzuraten sei, die der Sauce eines Sauerbratens aber das Geschmeidige und dem Essigwasserbad, in dem das Fleisch mehrere Tage baden müsse, einen süßlichen Geschmack verleihe. Sie überließe es ihrem Mann, Mondamin oder eine Messerspitze Mehl hinzuzufügen, wichtig seien die Nelken, die Wacholderbeeren, der Lorbeer und … sie hörte mitten in der Aufzählung der Gewürze auf: Wenn Sie wieder Lust auf Sauerbraten haben, rufen Sie mich kurz an, und schon lege ich Ihnen ein gutes Stück in Weinessig. Mit kalten Fingern tätschelte sie Viktors Hand über dem Tisch. Er betrachtete peinlich berührt den wertvollen Ring an ihrem Zeigefinger. Eine Art Verlobungsring, sagte sie, mein Mann hat ihn mir geschenkt. Ein Familienstück. Ich war sehr
Weitere Kostenlose Bücher