Der Gesang der Haut - Roman
Und jetzt, Henrietta, blase ich deine blöde Kerze aus. Pfuitt!
Du bist betrunken, Gert, sagte Frau Gerlach, Wein verträgt sich überhaupt nicht mit deinen Medikamenten.
Welche Medikamente?, seufzte ihr Mann. Außerdem trinken wir jetzt Sekt!
Und danach gehen wir nach Hause, sagte Viktor, es war sehr schön, aber …
Ich bin der Gert, sagte Gerlach zu Klara, und wir gehen nicht schlafen, wir gerlachen mal zusammen.
Klaras Lachen hatte etwas liebenswert Teuflisches, dachte Viktor. Wer fährt, fragt er, du oder ich?
Aber sie antwortete nicht. Sie war ungefragt zum Klavier gegangen und kündigte an: Bevor wir nach Hause gehen, singe ich etwas zu deinem Geburtstag, lieber Gert.
Sie sang Lili Marleen, dann Schöne Nacht, du Liebesnacht von Jacques Offenbach. Gerlach schwitzte vor lauter Klatschen und verlangte immer mehr. Bei allen Liedern summte er mit. Klaras Stimme rollte dabei über seine, wie ein leichter Ball auf dem Kiesel. Frau Gerlach schloss die Augen. Viktor sah, wie die Knöchel ihrer beiden Hände erblassten, als sie Fäuste machte. Ihre Gesichtszüge wirkten verkrampft. Sie kämpfte mit den Tränen. Viktor goss sich ungeniert wieder Champagner ein und trank allein die Flasche leer. Dann steckte er die Hände in die Taschen und sagte stumm sein Einmaleins auf, ein altes Rezept, um gegen peinliche Emotionen anzukämpfen.
Als sie gingen, umarmte ihn Gerlach. Bis demnächst, junger Mann. Viktor schnappte nach Luft, er fühlte sich, als hätte er Kräfte und Jugend eingebüßt. Dann kam der Boxer angerannt. Gert Gerlach rief ihn zurück: Inkognito! Klara lachte über den Namen und tätschelte das Tier. Ihre Hand begegnete Gerlachs Hand.
Sie fuhr. Viktor selbst fühlte sich betrunken und todmüde. Klara aber war bester Laune und wollte hören, wie Gerlachs auf ihren Gesang reagiert hatten, obwohl sie ihre Begeisterung mitgekriegt haben sollte. Du hast fantastisch gesungen, wiederholte Viktor zum vierten Mal und bekam Schluckauf. Fabelhaft hast du gesungen. Noch nie so schön. Auch Frau Gerlach war sehr berührt.
Halte den Atem an, das hilft, sagte Klara. Ein toller Abend, toll, toll, weißt du, was ich glaube? Dein Gerlach ist gar nicht krank, er hat nur entschieden, ab jetzt alles zu machen und zu sagen, was ihm durch den Kopf schießt.
Ach. Und deshalb hat er auch aufgehört zu arbeiten?
Ich denke, dass seine Frau krank ist.
Sie ist nur eifersüchtig.
Das sowieso.
Viktor erwachte mit einem Kater. Er hatte schlecht geschlafen, von wilden Hunden geträumt, die er mit Steinen zu verjagen versuchte. Die Tiere zischten ab, kamen aber immer wieder. Kopfschmerzen hinderten ihn daran, die Augen zu öffnen und Klara anzuschauen, die ihm spöttisch verkündete, dass er schrecklich geschnarcht habe. Es tut mir leid, lächelte Viktor, der Alkohol. Sie hob die Schultern: Macht nichts. Beim Frühstück fanden sie aber beide nicht mehr die Gelassenheit des Vortags, sie lächelte falsch, guckte schief oder war abwesend, sie schmierte ihr halbes Brötchen mit Marmelade, ohne Viktor anzusehen, zog ihre Hand zurück, als er versuchte sie zu berühren, beantwortete Viktors Fragen nach dieser schlechten Laune nicht. Alles sei in Ordnung, sie müsse aber wieder packen, und dazu habe sie keine Lust. Am Montag erwarte sie der Unterricht, und auch darauf habe sie keinen Bock, ihre blöden Schüler zu sehen, ach nee, wenn ich bloß daran denke … Der Ton war neu, bis jetzt hatte Klara nur freundlich von ihren Schülern gesprochen. Viktor versuchte sie zu trösten: Du machst das Schuljahr zu Ende und dann ziehst du zu mir, hierher. Und du bewirbst dich jetzt schon um eine neue Stelle hier. Privatschulen gibt es genug, die werden sich nach dir die Finger lecken, und solltest du keine Stelle bekommen, ist es auch egal. Wir haben viel Zeit. Viel Zeit wozu?, sagte sie. Sie drehte das Gesicht weg und schob ihn sanft von sich. Viktor fragte sich, ob er vielleicht Mundgeruch habe. Er putzte noch einmal die Zähne und trank ein Glas Wasser. Und weil sie ihm manchmal vorwarf, Problemen aus dem Weg zu gehen – du bist ein Weltmeister des Verdrängens –, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und fragte, ob sie vielleicht wegen gestern böse sei, wegen des eigenartigen Besuchs bei Gerlachs, er wusste ja, dass es eine Zumutung war, so komische Leute zu besuchen, man könne sich fragen, ob der Alte krank sei oder Theater spiele, aber dann, warum und wieso, und auch seine Frau sei, na, sagen wir mal, sonderbar, er selbst, Viktor, habe
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