Der Gesang der Haut - Roman
habe den Respekt der Schwiegertochter verdient. Leider habe sich Gisela völlig umgewandelt, eine Umkehr um hundertachtzig Grad. Um hundertachtzig Grad?, wiederholte Viktor mit fragendem Unterton, als wollte er hier nur das Arithmetische in Zweifel ziehen, wollen Sie es mir erzählen? Es warten keine Patienten mehr. Moira lächelte rätselhaft: Es drehten sich übrigens im Leben so vieles und so viele um hundertachtzig, dass es einem schwindelig werde. Philip-Leander, so heißt mein Exmann, sagte sie, Philip heißt der Pferdeliebende. Philip hieß nicht nur so, er ritt, ich auch, wir haben uns sehr schnell vergaloppiert. Den Namen Leander finde ich schön, aber später nannte ich ihn nur noch Mäander. Seine Lügen zogen herrliche Schleifen. Am Anfang glaubte er mich zu lieben, er mochte aber nur die Folklore, die sich bunt um eine aus dem schwarzen Kontinent rankt. Die Folklore, dachte Gisela, und irrte nicht, die Folklore ist die Maske, die man auf die ganz und gar nicht sagenhafte Realität legt. Philip-Leander genoss die Abwechslung und den Effekt, die Überraschung seiner Bekannten, wenn er mich vorstellte: meine Frau. Ach. Stellen Sie sich das vor: Philip-Leander gehörte sogar zu einer schlagenden Verbindung, er mochte seinen eigenen Mut kaum glauben, er ergötzte sich an seinem liberalen, freien, großzügigen, menschlichen, sauberen Gedankengut und an seinem Widerstand gegen die nüchterne Mutter, die ihm wiederholte, dass wir nicht zusammenpassten. Ich habe sie damals gehasst. Dann aber fand ich, dass sie nicht Unrecht hatte. Den Durchblick hatte sie. Ich selbst war blind wie das Schicksal.
Die junge Frau schaute Viktor mit noch größeren Augen als zuvor an, und Viktor fragte sich, wann diese Erweiterung ihrer Pupillen aufhören würde. Ich hänge an ihren Lippen, dachte er.
Ich labere zu viel, sagte Moira, Sie gucken so komisch.
Nein, erzählen Sie weiter. Ich höre gern zu.
Sie schaute skeptisch und fuhr trotzdem fort: Und als Strafe für den Sohn habe ihm die Mutter Hausverbot verhängt, als er, Philip-Leander, sie, Moira, für eine blauäugige Deutsche verließ, ja, sie habe ihn einfach vor die Tür gesetzt, klasse. Weil weder der Sohn noch Moira Geld hatten, habe sie, die Schwiegermutter, für Moira ein Zimmer eingerichtet, wie für eine Tochter des Hauses, das Jugendzimmer ihres rausgeworfenen Sohnes. Und ab jetzt wohnst du hier und studierst weiter, mein Kind, hatte sie gesagt. Letztlich habe sie das aber nicht verkraftet. Dass Sie bei ihr wohnen?, fragte Viktor. Die Schwiegermutter habe nicht vertragen, dass sie sich gegen den eigenen Sohn gewandt habe, es nage an ihr, immer mehr, das könne Moira doch sehen. Es sei auch ein Fehler gewesen. Sie fand zuerst das Verhalten der Schwiegermutter »schwer in Ordnung«, aber jetzt könne man doch sehen, was sich abspiele. Wer konnte was sehen? Sie, Moira, konnte sehen, dass nichts, ganz und gar nichts in Ordnung war. Verstand denn der Doktor Weber das nicht? Beinahe hätte Viktor gefragt: Welcher Doktor Weber? Dass es mit der Frau schiefging, sei jetzt klar, sie sei eine todunglückliche Mutter, die sich nach ihrem blöden Sohn sehne, ja es sei vorauszusehen und verständlich, sie, Moira, könne das verstehen, hätte sie ein Kind, würde sie hundertprozentig zu ihm stehen, egal, was er für ein Verbrecher sei, das Gesetz des Blutes, hieße das, und sei in jedem Land gültig. Die Arme kratze sich dauernd und beschuldige Moira, dass sie eine ansteckende Hautkrankheit habe.
Jetzt können Sie mir attestieren, dass ich nichts habe, außer Reue und Bedauern und den Wunsch, schnellstens auszuziehen.
Das kann ich tun, sagte Viktor und lächelte väterlich.
Wollen Sie mehr hören?
Sehr gern.
Ich muss aber jetzt nach Hause. Sie wartet auf mich mit dem Mittagessen. Ich würde allerdings gern mit Ihnen weiterplaudern, einfach so, privat. Was meinen Sie, wollen wir nicht am Samstag zusammen essen gehen?
Viktor schluckte, spürte einen heißen Strahl in der Kehle, atmete tief ein und aus. Privat? Hm … Es geht nicht so gut, sagte er errötend, meine Freundin kommt am Wochenende und wir sind bei einem Freund eingeladen.
Kein Problem. Ich kann auch während der Woche, sagte Moira, wie ist es heute Abend oder morgen? Und als sie seinen zögernden Blick sah und wie er sich auf die Unterlippe biss, lachte sie: Ich will Sie ja nicht fressen, nur mit Ihnen essen und plaudern, wir können auch nur Kaffeetrinken, wenn Sie wünschen. Ihr »Wenn Sie wünschen« klang
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