Der Gesang der Haut - Roman
oder von Silvia unterweisen. Sie lernte schnell und versuchte nicht, Viktor während der Arbeit zu bezirzen. Jeden Abend wartete sie aber auf ihn, der sich allerdings versprochen hatte, nicht mehr zu sündigen, wenigstens bis Klaras Ankunft und Gerlachs Fete. Ihre Gespräche blieben lustig und lebhaft. Du bist so jung und so klug, sagte Viktor, du könntest doch Medizin studieren. Du hast vergessen, sagte Moira, dass ich keine Toten mehr sehen und lieber Filme drehen möchte. Viktor biss sich auf die Lippen und erinnerte sich rechtzeitig an Klaras Vorwürfe. Ja, mach deinen Film zu Ende, und wenn es dir in der Praxis gefällt, kannst du so lange jobben, wie du willst. Ich bin glücklich, dass ich diese Arbeit habe, sagte sie, und Geld verdiene. Aber unter uns, fing Viktor an … Mach dir keine Sorge, schnitt ihm Moira das Wort ab, es ist leichter mit jemandem zu arbeiten, den man liebt, als mit jemandem, den man hasst, und die Zukunft wird das sein, was sie sein wird. Ach so, sagte Viktor, dann. Es wird sich alles finden, wiederholte sie. In deiner unerschütterlichen Zuversicht bist du beispielhaft, sagte Viktor. Wir sind alle Beispiele für irgendetwas, lachte Moira. Ich bin auch ein Beispiel für Unvernunft. Manchmal habe ich richtig Lust auf dich, wenn ich deinen Nacken aus dem weißen Hemd herausragen sehe. Oder wenn ich deine Hände auf der Haut einer Patientin beobachte, habe ich schon Lust, die Olle aus der Liege herauszuschubsen. Ich gratuliere mir ständig zu meinen Beherrschungsübungen, und einmal zu Hause bei der alten Hexe, die sich übrigens nicht mehr kratzt, denke ich nicht andauernd an dich. Ach, das ist gut, sagte Viktor, und er war sich auf einmal nicht mehr so sicher.
In den nächsten Tagen konnte Viktor keinen klaren Gedanken fassen und hatte auch keine Minute Zeit dafür. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich für jeden Patienten Zeit nahm, so gab es im Wartezimmer einen Patientenstau bis in die Diele, jeder hoffte, zwischen zwei regulären Terminen eingeschoben zu werden. Ja, sagten Silvia und Moira, bald seien sie dran, und je nach Laune des Wartenden sprach Moira diese Floskel mal als halbe Drohung, mal als Hoffnungsschimmer. Augenzwinkernd impfte sie den Patienten gegen die Ungeduld, der dann die Warterei als wesentlichen Teil der Behandlung empfand. Die erste Hürde und das Nervigste habe man ja bald hinter sich. Viktor freute sich über den Andrang, auch weil er in einem Gedankenwirbel rotierte, sobald er sich von der Haut seiner Patienten entfernte. Moira, die, sobald sie in die (abstrakte) Uniform der Arzthelferin schlüpfte, sich von der Frau distanzierte, die ihn nach Feierabend mit ihren schwarzen Augen auffraß, Moira konnte er noch nicht in seinem Alltag einordnen. Sie war eine Göttin, witzig und schön, erhaben und großzügig, er stand in ihrer Leuchtkraft, wehrte sich aber dagegen. Überhaupt ging ihm die bewährte Ordnung verloren. Die telefonischen Gespräche mit Klara läuteten das Ende der Liebe ein. Auch Gerlachs spukten ihm im Kopf herum, vor allem Henrietta, die ihn auch jetzt öfter anrief und die er vergeblich zu beruhigen versuchte. Seit der Szene mit Klara dachte er öfter an Martin, fühlte sich aber nicht frei genug, das gegenseitige jahrelange Schweigen zu brechen. Er erwog die Möglichkeit, mit Leo zwei Wochen nach Afrika zu fliegen und den Kilimandscharotraum endlich zu verwirklichen. Viele Hirngespinste flatterten in seinem Schädel herum, keinen Gedanken hielt er länger fest, er lief von Patient zu Patient, stets in der Hoffnung, helfen zu können, untersuchte fahle, pickelige, bräunliche, rosa, gelbe Haut, frische Haut, fette Haut, Pergamenthaut, entdeckte Milben und Flechten, betupfte stirnrunzelnd und väterlich grinsend die entzündeten Pickel eines Fünfzehnjährigen, während er mit ihm über ein ganz anderes Problem sprach, warum, Junge, Alkohol um zehn Uhr morgens, warum? Könne er da helfen, ja vielleicht, ich weiß nicht, mein Vater, meine Mutter, meine Freundin, mein Lehrer, mein Lehrmeister, meine Versetzung, meine Zukunft, die Welt ist schlecht, meine Angst, die Angst meiner Eltern, die Schwangerschaft meiner Freundin. Viktor diagnostizierte verkrebste Zellen und Psoriasis, spürte unter der Haut die glucksenden Organe, er riet zu und riet ab, pflegte, verschrieb und überwies, drückte viele Hände, nur als eine Frau, nur Haut und Knochen, weinte, schloss er die Augen und hatte keine Stimme für fromme Lügen mehr. Seine kleinen Sorgen,
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