Der Gesang der Haut - Roman
ein Stück offen und schmetterte schöne Melodienfetzen, und Viktor lag auf dem Bett und dachte: Sie hat völlig recht, sie muss Sängerin werden, nicht Lehrerin, warum habe ich das nicht früher eingesehen, ich hätte sie ermutigen müssen, anstatt die biederen Wünsche ihrer Eltern zu unterstützen. Das war ein Fehler. Sie wird mir nie verzeihen. Er wollte zu ihr gehen, ihr das sagen, überzeugend, mit viel Wärme und Kraft ein neues Kapitel mit ihr anfangen, er senkte die Lider und schlief ein.
Sie stand vor ihm in einem langen Kleid aus seidig goldenem Stoff. Er riss die Augen auf: Oh Gott, ist das nicht zu viel? Die anderen Frauen werden keine langen Kleider haben. Und sofort runzelte sie die Stirn: Die anderen sind die Geburtstagsgäste, ich selbst gebe heute Abend ein Gastspiel, falls du das vergessen hast. Gert hat es sich übrigens so gewünscht, er hat mir das Kleid gekauft und geschickt, sogar die Größe stimmte, er hat einen Blick für die Maße einer Frau.
Das saß wie ein Schlag auf den Kehlkopf, während Klara ihm hinterherrief: Typisch für dich. Anstatt mir zu gratulieren, das Kleid zu bewundern … Er ging nach Luft schnappend auf den Balkon, wo er hin und her tigerte, ein viel zu kleiner Balkon, da wollte er seit Tagen Geranien oder andere Blumen aufstellen und kam nicht dazu. Er trat gegen die Metallstäbe des Geländers, es klang nach Ohnmacht, durchdrang die ganze Front des Wohnhauses und hallte fast melodisch nach. Klara folgte ihm unbeeindruckt: Ich habe mir ein Taxi bestellt, ich will noch mit Florian proben, bevor die Gäste eintrudeln. Er ist bestimmt schon dort. Ich bin nicht sicher, dass das Klavier gut gestimmt ist, da kann der Florian vielleicht noch was dran tüfteln. Treffen wir uns dort in ein, zwei Stunden?
Ich habe mit Moira geschlafen, sagte Viktor, ohne sich umzudrehen, und wunderte sich, wie melodisch seine Stimme klang, es war ein Genuss, mit ihr zu schlafen, aber keine Befreiung von dir. Klara lief aber schon in der Diele, sie hängte sich einen leichten Sommermantel über die Schulter. Das seidene Kleid guckte bis zum Boden hervor, sie versuchte, es über den Gürtel hochzuziehen, damit es nicht den Bürgersteig fegte.
26
H enrietta trug noch ihren alten Schlafrock aus Samt. Sie nahm einen seit sieben Monaten ausgetrockneten und angestaubten Weihnachtsstern von der Fensterbank und warf ihn im Bogen in den Papierkorb, sie lüftete das Schlafzimmer. Als sie sich drehte, flog ein Vogel auf die Fensterbank und pfiff einen lang gezogenen Pfeifton, er flatterte kurz und sie sah seinen rostroten Bauch. Der Vogel rief erregt huid teck teck, es folgten kurz angeschlagene tiefe Töne. Ein Gartenrotschwanz gratuliert dir, Gert, Gert? Gert? Da keine Antwort kam, tippte Henrietta leicht auf den reglosen Rücken im Bett. Ja, sagte er, wer rastet, der rostet. Lass uns rosten.
Weißt du, welchen Tag wir heute haben?, fragte sie.
Einen Sommertag. Morgenstund’ hat Gold im Mund, antwortete Gert Gerlach. Er gähnte.
Das altes Spiel zwischen ihnen: Im Winter sagte er »wer rastet, der rostet«. »Morgenstund’ hat Gold im Mund« war der Sommerspruch, Gerts Lieblingszeit, wenn die Kirschen blühen und die Mädchen leichte Röcke tragen, wenn Vögel in Baumkronen pausenlos trillern und man ins Schwimmbecken plumpsende Körper hört, die Zeit der duftenden Rosen, wenn Gert viel lieber früh aufstand.
Er drehte sich zu Henrietta und zeigte ihr gähnend seine Zähne. Ich bin aber noch so müde, Henrietta, und der Tag wird lang.
Wir müssen frühstücken, mein Herr.
Seit wann schimpfst du mich »mein Herr«? Weißt du, was heute los ist, Frau?
Und du?
Ja, sagt er. Alles notiert, damit du dich erinnerst.
Heute feiern wir deine Pensionierung.
Erst heute Abend meine Liebe. Lass uns noch schlafen.
Es ist halb zehn.
Viel zu früh.
Klara wird singen.
Deshalb musst du nicht singelen, wenn du das sagst.
Singelen? Ist das eine neue Wortschöpfung?
Ja. Ich meinte deinen Singsang, wenn du sprichst. Falls du nicht murmelst und nicht schreist und keifst.
Ich singele also. Besser als dein Brummen und Krächzen.
Ich krächze nicht. Das Programm ist gedruckt, nicht wahr?
Ich habe es dir gestern gezeigt. Wunderschön geworden.
Stimmt. Wann bringen sie das Büffet?
Nicht vor sechs.
Und der Wein? Und das Bier? Und der Sekt?
Alles schon im Keller und in den Kühlschränken.
Und die Bedienung?
Wird pünktlich da sein.
Wir könnten also beruhigt weiterschlafen.
Gert, was machen wir mit
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