Der Gesang der Haut - Roman
seine eigene Verwirrung empfand er als lächerlich im Vergleich zu dem Elend, das in seiner Praxis ein- und ausging, und er schämte sich, manchmal unglücklich zu sein, weil Klara ihn vielleicht nicht mehr liebte, weil Gerlachs ihn störten, weil Moira ihn verwirrte, mehr Gründe konnte er nicht nennen, aber auch wenn er sich zurechtwies, auch wenn das Schicksal mancher Patienten ihn aufwühlte und er unaufhörlich beschäftigt war, stand er in einem Vakuum, das er nicht verstand, er fühlte sich verloren, das Objekt eines monströsen Missverständnisses, das er selbst nicht definieren mochte.
Am Freitag, dem 26. Mai kam der Zug aus Frankfurt pünktlich an. Viktor hatte beim Blumenhändler einen Strauß duftender Rosen verlangt, aber die steifen Blumen, die hinter dem Schaufenster wie schicke Callgirls den Kunden anlockten, rochen nach nichts. Klara mochte nur wohlriechende Rosen. Er kaufte einen Bund Narzissen und Hyazinthen, die betörend dufteten. Als Klara aus dem Zug stieg, fand er sie so schön in ihrem blauen Kleid, dass er keinen Schritt mehr machen konnte. Sie rollte einen Koffer und eine schwere Tasche (für drei Nächte?) hinter sich her, hallo Viktor, erkennest du mich nicht mehr? Der Blumenstrauß störte die Umarmung und wurde leicht gegen ihre Brüste gedrückt. Ach, der riecht aber, sagte Klara, und sah ihn argwöhnisch an. Narzissen! Sie schaute unsicher, leicht errötend: Was willst du damit sagen? Ach Gott, nichts, stotterte Viktor, der aus allen Wolken fiel, was soll ich denn sagen wollen? Zum Beispiel, entgegnete Klara, dass ich meine narzisstischen Züge jetzt voll entfalte? Klara! Viktor presste sie noch einmal ganz fest gegen seine Brust und erstickte fast an den nächsten Worten: Aber nein, Klara, traust du mir solche Bosheiten zu? Wie käme ich auf so eine Idee? Ich wollte nichts, gar nichts sagen.
Auch typisch für dich, sagte Klara und befreite sich aus der Umarmung.
Und Viktor fuhr aus der Haut. Er riss ihr die Blumen weg und schmiss sie auf eine Bank. Sie machten sich schweigend auf den Weg, er trug ihre Tasche und lief so schnell, dass sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Hör auf, Viktor, ich war dumm, komm, versöhnen wir uns. Ich hole den Strauß wieder. Sie rannte zur Bank und kam genauso schnell wieder: Jemand hat ihn gestohlen! In den zwei Minuten, wie ist das möglich!
Sie lachten, und dieses Lachen verjagte vorerst die dunklen Wolken.
Wenn sie sich am Freitagabend noch als Liebende hingelegt hatten, standen sie morgens wie ein altes Ehepaar auf. Klara bereitete das Frühstück, bevor Viktor sich zum Aufstehen durchrang, er hörte sie mit dem Geschirr klappern, dachte, wir müssen miteinander sprechen, eine Chance haben wir noch, stand auf und spürte sofort ihre Kälte, als er sich ihr näherte und sie von hinten umarmte. Lass uns eine Tasse Kaffee trinken, Viktor, und einen schönen Spaziergang machen, ich brauche jetzt frische Luft. Die letzten Worte hatte sie gesprochen, als hätte diese Nacht sie erstickt. Sie gingen spazieren, tauschten nur Belanglosigkeiten aus, aßen Spaghetti beim Italiener, und erst nach einem Glas Rotwein traute sich Viktor zu fragen, wie sie jetzt ihre gemeinsame Zukunft sehe. Sie senkte die Augen, antwortete, sie wolle den heutigen Abend erst hinter sich bringen, manchmal sollte man sich keinen Kopf machen, die Probleme lösten sich von selbst. Viktor reichte ihr seine Hand, die sie ergriff, beide über diese Übereinstimmung erleichtert. Er schaute auf ihre schönen langen Finger und stellte sich eine Welt ohne Besitzansprüche, ohne Eifersucht, ohne Egoismus und Groll vor, ohne all die Gefühle, die diese Welt wild und unbewohnbar machen. Alles schien möglich. Beim Tiramisu erschienen aber seine Eltern und sogar die verstorbenen Großeltern in einer Reihe und schauten ironisch und enttäuscht zu, eine bewährte Mischung der Gefühle in seiner Familie. Der Vater schüttelte nur den Kopf. Der Großvater sagte ihm, nur Frauen lassen mich Hitler und den ganzen Wahnsinn vergessen, nur unter den Röcken einer Frau werde ich neu geboren. Die Ehe ist heilig, mein Kleiner, man muss aber nicht jeden Tag die Reliquien anbeten, oder?
Ich freue mich auf heute Abend, sagte Viktor, ich bin gespannt, was und wie du singen wirst. Sie gingen beide gut gelaunt nach Hause, und Klara bereitete sich für ihr Konzert vor. Viktor hörte sie trällern, fragte, ob er zu ihr in die Badewanne dürfe, nein dürfe er nicht, sie wolle auch da proben. Sie ließ aber die Tür
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