Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
dieser Zeit war Sandner bereits im Amt und sie im Kasten der Souffleuse.
War dies das Motiv, nach dem er suchte?
»Eine Frage, Herr Ludewig«, begann er. »Wie war das vor vier Wochen, als die Proben zum
Don Giovanni
begannen. Gab es da nur einen Bewerber, nämlich Fred Sandner, für die Regie?«
»Wo denken Sie hin. Bei Gott, nein. Ganze Stapel an Bewerbungsmappen habe ich durchforstet, bis mir dann Reichenberg mitteilte, Sandner würde die Regie übernehmen.«
»Einfach so, ohne Grund?«
»Ja, so läuft das bei uns. Du arbeitest wie ein Tier an etwas, und dann kommt jemand und sagt, ätsch, alles umsonst gewesen. Manchmal könnte ich …«
»Hatte sich auch die Souffleuse, Franziska Bartholomä, für die Regie beworben?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«, sagte Ludewig überrascht. »Regie und Franziska, niemals. Nein, sie hegte die Hoffnung, eines Tages eine Oper dirigieren zu können. Darin liegt ihr ganzes Interesse. Mit dem Schauspiel hat sie nichts am Hut.«
»Hat sie sich dafür beworben?«
»Ja, sie meinte, nach ihrem Erfolg mit der Zauberflöte in Schweinfurt wäre sie doch in der engeren Wahl.«
»Und?«
»Nichts weiter. Der GMD machte sich über sie lustig. Vor der ganzen Mannschaft hat er sie bloßgestellt: Das hässliche Entlein sei besser in ihrem Kasten aufgehoben als an seinem Pult.«
»Wie reagierte Franziska darauf?«
»Na, wie schon. Sie war am Boden zerstört, fasste sich aber überraschend schnell und machte ihren Job. Dennoch, seit diesem Zeitpunkt herrscht Totenstille zwischen den beiden. Wenn Stiller und nicht Freddie gestorben wäre, dann hätte ich auf sie getippt.«
Franziska hatte es also von Anfang an darauf angelegt, das Dirigat zu übernehmen. Doch das klappte nicht. Also musste sie handeln.
Kilian spielte es gedanklich durch. Rainer Pohlmann, der zweite Kapellmeister und für das Stück eingeplante Dirigent, war verschont geblieben. Wahrscheinlich weil Stiller das Dirigat dann selbst übernommen hätte oder weil sie nie von ihm beauftragt worden wäre.
Blieb der Regisseur. Nach Sandners Ausfall hatte Marianne Endres damit gerechnet, die Regie zu übernehmen. Aber auch das war pures Wunschdenken. Also lancierte Franziska einen anderen Regisseur, Raimondi. Sie kannte ihn und seine Arbeitsweise, durfte also damit rechnen, dass Späne während seiner Arbeit fallen würden. Und so war es ja auch. Nach Mariannes Ausscheiden war sie Regieassistentin geworden. Aber würde ihr das reichen? Kaum, die Regieassistentin hatte ebenso wenig Einfluss auf die Produktion wie die Souffleuse.
Das bedeutete, dass ihr Plan noch nicht zu Ende war, dass er andauerte, dass er bis hinein in die Premiere reichte. Doch welche Rolle spielte Raimondi in diesem Spiel? War auch er nur eine Figur auf dem Schachbrett? Oder steckte er mit Franziska unter einer Decke? In dem Gespräch mit dem Journalisten von der Frankfurter Allgemeinen war Kilian bereits zu der Vermutung gekommen, dass die beiden Anschläge auf Raimondi getürkt waren und dass Raimondi eingeweiht war. Hieß das, dass Franziska der Täter im Hintergrund war? Dass sie diejenige war, die die Anschläge mit Raimondi zusammen arrangierte?
Wie konnte er diese Theorie beweisen? Er müsste ganz an den Anfang gehen, als die Anschläge begonnen hatten, das war klar, ja, vielleicht noch weiter, bis zu dem Tag, als Sandner sich das Leben genommen hatte – sofern die beiden Taten wirklich in einem Zusammenhang stünden. Daran hegte er mittlerweile keine Zweifel mehr.
Einer Spur war er noch nicht nachgegangen. Das war am Abend seines Eintreffens in Würzburg, im Weinhaus
Stachel
.
Er nahm den Zeitungsartikel und machte sich auf den Weg.
Es war kurz vor achtzehn Uhr, als er im Weinhaus
Stachel
in der Unteren Gressengasse ankam. Gerade rechtzeitig zum Schichtwechsel der Bedienungen.
Im efeubehangenen Hof herrschte bereits gut Betrieb an diesem bevorstehenden, lauschigen Sommerabend. Es war angenehm warm, und die späten Sonnenstrahlen glänzten an den Giebelspitzen der umstehenden Häuser.
Kilian ging auf eine Gruppe zu, die sich im Durchgang zur Küche versammelt hatte. Rechnungen lagen auf einem Tisch bereit, gebrauchte Gläser wurden abgeräumt, neue hinzugestellt, letzte Anweisungen wechselten zum neuen Kellner, wie mit den Bestellungen bestimmter Gäste zu verfahren sei.
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach Kilian das hektische Treiben. »Wer von Ihnen hat am siebzehnten abends an den beiden Tischen am Ausgang bedient?«
Für einen
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