Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
haben sich also die ganze Zeit vor dem Büro des Intendanten aufgehalten. Ist das richtig?«
»Ja.«
»Wieso gingen Sie nicht einfach hinein?«
»Weil schon jemand drin war. Ich musste warten.«
»Ich nehme an, es handelte sich um den Verstorbenen.«
Sie nickte.
»Waren Sie auch im Büro von Herrn Sandner?«
»Was sollte ich da?!«, kam es brüsk zurück.
»Es liegt auf demselben Stock«, konstatierte Heinlein, »vielleicht wollten Sie auch mit ihm sprechen?«
»Einen Teufel wollte ich, dem war nicht mehr zu helfen.«
»Dann haben Sie also keinen Zeugen, der Sie vor dem Büro des Intendanten gesehen hat?«
Noch bevor sie antwortete, meldete sich die Pianistin zu Wort. »Ich habe sie dort gesehen.«
Die Blicke der beiden Frauen trafen sich.
»Ihr Name?«, fragte Heinlein.
»Sue Ryser. Mein Übungsraum liegt gleich um die Ecke. Ich konnte Marianne sehen, als sie bei mir vorbeikam. Dann hörte ich ihre Schritte, wie sie vor dem Büro auf und ab ging.«
Sie sprach mit einem amerikanischen Akzent, und sie log. Kilian sah ihren Blick, als sie der Regieassistentin aus der Patsche half. Endres schwieg, blickte stier nach vorne.
»Sie hielten sich folglich die ganze Zeit dort auf?«, fragte Kilian Sue.
»Das trifft zu.«
»Zeugen?«
Sie grinste. »Mein Piano.«
»Das ist nicht viel«, sagte Heinlein beiläufig. Er drehte sich zu Kilian um, sondierte, ob dieser noch weitere Fragen hatte. Kilian erhob sich, stellte sich neben ihn. »Welche Szene haben Sie geprobt, bevor es in die Pause ging?«
»Szene eins, erster Akt«, antwortete Endres. »Notte e giorno faticar … dann Non sperar mit Donna Anna … bis Tod Komtur.«
»Donna Anna?«, fragte Kilian.
»Die haben wir völlig vergessen«, antwortete Ludewig.
»Kayleen McGregor spielt die Donna Anna. Sie haben sie vorhin auf dem Gang im zweiten Stock gesehen.«
»Wissen Sie, wo sie sich in der Pause aufgehalten hat?«
»Keine Ahnung«, antwortete Ludewig. »Das müssen Sie sie selbst fragen.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Die Sanitäter wollten sie mitnehmen … aber ich glaube nicht daran.«
»Wie meinen Sie das?«
Ludewig kam näher, als ob er ein gut gehütetes Geheimnis lüften wollte, und flüsterte: »Kayleen hat so ihre Art. Sie liebt große Auftritte.«
»Schwätz nicht«, ging Endres dazwischen. »Sie ist Freddies Lebensgefährtin. Sie hat ihn uns beschert, und er wiederum hat sie besetzt.«
Kilian erinnerte sich der Worte des Intendanten. »Ich nahm an, dass sie für die Rolle prädestiniert wäre.«
Ein hinterhältiges Lächeln legte sich auf die Lippen aller Versammelten.
»O ja«, antwortete Pohlmann amüsiert, »für die Rolle der Donna Anna ist sie die Idealbesetzung.«
»Wieso?«
»Die Donna Anna spielt im
Don Giovanni
den erbarmungslosen Racheengel. Eine ziemlich bösartige, betrogene Frau, die ihren Verlobten Don Ottavio zum Mord anstiftet.«
Die Inspizientin Jeanne beendete mit einem Verweis auf die Uhr abrupt das Gespräch: »Vierzehn Uhr! Bitte die Bühne frei machen. Es wird umgebaut.«
Das Signal setzte alle in Bewegung. Bücher wurden zugeklappt, Flaschen und Taschen verschlossen, die Solisten und alle anderen packten ihre Sachen zusammen. Auf der Bühne hinter ihnen wurden die Seitenwände zur Nebenbühne frei gemacht. Im Nu kamen Techniker dazu, bauten das Bühnenbild ab, bereiteten ein anderes zum Aufbau vor.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Heinlein überrascht. Um sie herum wuselte, werkelte und kommandierte es plötzlich, als sei ein Ameisenhaufen zum Leben erwacht.
»Die Bühne für die
Dialogues des Carmelites
wird aufgebaut«, erklärte Ludewig. »Heute Abend singt Aminta wieder.«
»Wer ist das?«
»Aminta Maria Gudjerez, unsere neue Diana Damrau, vielleicht sogar eine Waltraud Meier, wenn sie sich richtig entwickelt.«
Da Heinlein und Kilian nicht gerade Opernfans waren, sagten ihnen die Namen nichts.
Ludewig kam ihnen zu Hilfe. »Aminta ist der neue Star unseres Hauses. Heute Abend kommen der Ministerpräsident und die Oberbürgermeisterin, um sie singen zu hören. Sie ist das Highlight der Saison.«
»Ich muss Sie jetzt wirklich bitten«, unterbrach Jeanne mit Fingerzeig auf die Tür.
Ludewig nahm sie mit zu den beiden Stahltüren, die in den Gang führten. Über die Lautsprecher ergoss sich die Ansage Jeannes, dass die Aufbauarbeiten begonnen und sich alle Mitwirkenden einzufinden hätten. Auf dem Gang wurde es schlagartig hektisch. Aus allen Türen stoben sie heraus, rückten eine Perücke zurecht,
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