Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
zupften sich am Hemd oder murmelten geistesabwesend etwas vor sich hin.
»Wo waren Sie eigentlich während der Pause?«, fragte Kilian Ludewig.
»Gut, dass Sie fragen«, antwortete er. »Ich habe nämlich auch kein Alibi. Ich sag’s frei raus, bevor Sie mich verdächtigen.«
»Von einem Verdacht ist bisher nicht die Rede«, sagte Heinlein. »Oder haben Sie andere Erkenntnisse zum Tod von Herrn Sandner?«
»Nein, um Gottes willen«, wehrte Ludewig ab, »überhaupt nicht. Freddie hat Selbstmord begangen. Das ist doch klar, oder?«
»Was meinten Sie dann mit ›verdächtigen‹?«
»Jargon, nichts weiter. Im Theater gibt’s immer einen Mörder. Sonst hätte ein Theaterstück hier nichts verloren.«
»Das ist kein Theaterstück, guter Mann«, widersprach Kilian, »ein Mensch aus Fleisch und Blut ist zu Tode gekommen.«
»Ja, natürlich«, entschuldigte er sich, suchte nach einem Ausweg. »Brauchen Sie mich noch?«
»Wir melden uns bei Ihnen«, erklärte Heinlein. »Die Aussagen müssen noch schriftlich aufgenommen werden. Ich schicke Ihnen zwei Kollegen vorbei.«
Ludewig war heilfroh, von dem Gespräch erlöst worden zu sein. Er machte sich eilends davon.
»Hast du jemals einen so verlogenen Haufen erlebt?«, fragte Heinlein.
»Meinst du jemand Bestimmtes?«
»Ich glaube keinem ein einziges Wort. Außer, dass sie den Sandner loswerden wollten. Der eine mehr, die andere weniger. Fragt sich nur, ob sie es auch tatsächlich getan haben.«
»Du glaubst also nicht an Selbstmord?«
»Du hast doch gehört, wie sie über ihren Regisseur gesprochen haben. Wundern würde es mich nicht. Was glaubst du?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Kilian, »Es gibt bisher kein einziges Indiz, das einen berechtigten Zweifel stützen könnte.«
»Du hast Recht. Wir müssen die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten.«
Als sie sich dem Ausgang näherten, kamen sie an einem Zimmer vorbei, dessen Tür geöffnet war. Zwei weiß gekleidete Sanitäter knieten vor dem Bett einer Frau, redeten ihr aufmunternd zu, forderten sie auf, Tabletten zu nehmen, die sie ihr mit einem Wasserglas reichten. Die Frau war jene aus dem Gang im zweiten Stock, Kayleen McGregor, die Donna Anna.
Die Geste, mit der sie die Medikamente und die Sanitäter bedachte, kannte Kilian gut. Sie war so überzeugend gespielt wie der Liebesschwur einer Carmen.
5
Das Würzburger Stadtfernsehen und der Bayerische Rundfunk brachten den Tod von Fred Sandner als Aufmacher in den Abendnachrichten. Kilian lehnte sich in die Couch zurück und legte die Fernbedienung beiseite. Er war festlich gekleidet, hatte einen hellen Anzug aus seiner Armani-Serie eigens für die Feier mitgebracht. Mit dem zartbraunen Teint auf seiner Haut, den er sich in den letzten vier Wochen unter der Sonne der Marken zugelegt hatte, wirkte er wie ein Gast aus dem Süden in Heinleins kleiner Welt von Eisenbahnerwohnung. Er schnippte das Zippo auf, steckte ein Zigarillo in den Mund und nahm einen tiefen Zug. Ein Schluck aus dem Cognac-Glas versetzte ihn in eine angenehme Ruhe.
Am nächsten Tag würden die Lokalzeitung und andere Blätter den Todesfall aufgreifen und ihn zu einem Aufmacher der Titelseite ausbauen. Einen Toten am Mainfrankentheater gab es ja nicht alle Tage. Und schon gar nicht im dreizehnhundertsten Jubiläumsjahr der Stadt und zum zweihundertjährigen Bestehen des Theaters. Für einen Zeitungsredakteur war das ein Fest, die allseits bekannten Veranstaltungshinweise mit einem ungeklärten Todesfall aufzuwerten.
Archivmaterial über Sandner und seine Erfolge leiteten den Bericht im Fernsehen ein. Verschwiegen wurde nicht, dass sein Engagement am Mainfrankentheater umstritten war. In Zeiten knapper Kulturbudgets musste jede Entscheidung dreifach überlegt sein. Im Grunde genommen traf nicht der Intendant, sondern der Schatzmeister der Stadt die Auswahl. Wenn man es so betrachtete, hatte der Intendant keine andere Möglichkeit, als den günstigen Risikofall Sandner zu engagieren. Da bedurfte es nicht der Drohung einer Sopranistin.
Der Intendant Reichenberg verstand es aber, den Tod Sandners als großen Verlust für das Theater und das Kulturschaffen allgemein hinzustellen. Kein Wort über die verkorksten Proben am
Don Giovanni
und seinen Rausschmiss. Dieses Verhalten bestätigte Kilian in seiner Annahme, dass Reichenberg ein guter Schauspieler war. Doch der Reporter hatte Wind davon bekommen und sprach ihn darauf an.
»Trifft es zu, dass Sie Herrn Sandner in der Probenpause
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