Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
Nächste würde er sich die verlogene Kayleen nochmal vornehmen.
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Proben beginnen am Theater immer um zehn Uhr vormittags. Wenngleich Kilian diese Uhrzeit sehr gelegen kam, er hasste den frühen Morgen, spielte sie letztlich beim Betreten eines Theaters doch keine Rolle, da man fortan von der Außenwelt völlig abgeschlossen war. Zeit und Raum schwanden, selbst Naturgesetze wie die Schwerkraft verloren an Bedeutung. Von nun an war man Teil eines anderen Kosmos, einer fernen Märchenwelt, in der Gefühle und die Phantasie regierten. Eben dafür zahlten Theaterbesucher. Sie entflohen der Realität und wünschten sich für zwei Stunden in eine Welt, in der alles möglich war, wo ihre eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Phantasien von Schauspielern gelebt wurden.
Kilian saß in einer der mittleren Reihen im Großen Saal. Das Licht über ihm war gedämmt, das auf der Bühne grell. Um die schwarz lackierten Bühnenaufbauten, vier versetzte mannshohe Mauern, im Rechteck angeordnet, scharten sich rund dreißig Mitglieder des Chores. Vorn saßen die Frauen, dahinter auf einer Mauer standen die Männer.
Wenn es ein Vorbild für einen Vielvölkerstaat geben sollte, dann dieses: Neben Mitteleuropäern standen Asiaten, Südund Nordamerikaner, finster dreinblickende Araber und hellhaarige Nordlichter. Sie hörten aufmerksam auf die Anweisungen des Chorleiters, der ihnen das Geprobte minuziös in Erinnerung rief. Sie stellten Hochzeitsgäste dar. Das Paar, das an diesem Tage getraut werden sollte, waren Zerlina und Masetto, beide Bauern, deren Hochzeit vom Edelmann
Don Giovanni
und seinem Diener Leporello gestört werden würde.
Im Orchestergraben erkannte Kilian die Pianistin Sue am Klavier, neben ihr den zweiten Kapellmeister Pohlmann, der die anstehende Szene dirigieren würde. Die Regieassistentin Marianne saß still auf ihrem Stuhl, verfolgte das Treiben vor ihr scheinbar emotionslos. Ganz rechts hockte Franziska, die pumucklhaarige Souffleuse im Schneidersitz auf dem Bühnenrand. Ihre rechte Hand wogte sanft im Takt, während ihre Linke Notizen auf einem Blatt Papier machte. Es sah aus, als komponiere sie.
Aus der Nullgasse trat Raimondi heraus. In seiner Begleitung ein junger Mann, offensichtlich der Masetto. Aus seinen Fragen und Äußerungen schloss Kilian, dass er Ferdinand hieß und aus Salzburg für das Mainfrankentheater engagiert worden war. Sobald Raimondi im Licht der Scheinwerfer stand, verstummten die Gespräche, richteten sich die Beteiligten auf, machten sich bereit, seine Anweisungen in die Tat umzusetzen. Franziska verzog sich in ihr kleines Kabuff, den Souffleurkasten.
Die Tür hinter Kilian öffnete sich, ein Lichtkegel fiel die Stufen hinunter auf die Bühne. Drei Personen aus dem Gegenlicht betraten den Saal. Zwei von ihnen setzten sich einige Reihen hinter ihm auf die Plätze. Die dritte, jetzt erkannte er sie, eine junge attraktive Frau, Mitte zwanzig, ihr dunkles, langes Haar hochgesteckt, in Jeans und weißer Bluse, stieg die Stufen zur Bühne empor.
Raimondi drehte sich zu ihr um. »Sind Sie die Zerlina?«
Sie nickte und reichte ihm die Hand. »Sì, Aminta Gudjerez. Es freut mich sehr, mit Ihnen arbeiten zu dürfen.«
Raimondi quittierte es mit einem Lächeln. »Wenn sich nur die Hälfte dessen bestätigt, was ich von Ihnen gehört habe, dann ist die Freude ganz auf meiner Seite.« Geflüster hinter Kilian ließ ihn umdrehen. Er erkannte in einer der beiden Personen Isabella Garibaldi. In ihrer Begleitung ein Mann um die vierzig, Anzug, glatt zurückgestrichenes Haar, vermutlich ein Geschäftspartner. Sie schickte Kilian ein Lächeln, er erwiderte es.
Raimondi klatschte in die Hände. »Wenn wir alle so weit sind, dann möchte ich sehen, was Sie bisher einstudiert haben.« Er nahm neben der Regieassistentin Marianne Platz, blätterte im Klavierauszug zur entsprechenden Stelle. Dann, an alle gerichtet: »Wir proben Szene sieben, erster Akt. Auftritt Zerlina, Masetto und Chor. Giovinette, bitte sehr.«
Auf der Bühne fanden sich Bauernmädchen mit Bauernjungen zum Tanz zusammen, die Zerlina platzierte sich nach vorne, gespannt die Ankunft ihres Bräutigams Masetto erwartend. Pohlmann, der musikalische Leiter der Probe, gab den Einsatz.
Heiter und lebenslustig spielte Sue zum Tanz auf. Die Pärchen setzten sich in Bewegung. Zerlina trat an den Bühnenrand, schaute freudestrahlend in die Ränge und begann mit Giovinette,
che fatte all’amore …
5
Ihre Stimme klang hell, voller Freude;
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