Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
Klavierunterricht, dann Gesang und, wenn noch Zeit war, Lektüre von Goethe und Schiller. Das Singen im Kirchenchor hat mir am meisten Spaß gemacht. Dadurch kam ich wenigstens ein paar Stunden von zu Hause raus.«
»Klingt nach Stress. Wie lange haben Sie das durchgehalten?«
»Mit siebzehn bin ich abgehauen. Versuchte mein Glück in Alaska, wo ich das Schürfen gelernt habe, bin dann nach Colorado, da habe ich mich als Holzfäller verdingt, bis ich meine alte Leidenschaft wiederentdeckte, das Singen, es fehlte mir. Ich habe Deutsch, Klavier und Gesang an einer Schule in Ohio unterrichtet. Dadurch hatte ich genügend Zeit, abends meine Gesangsausbildung zu Ende zu bringen. Mit fünfundzwanzig bin ich nach Deutschland gekommen und lebe seitdem hier.«
»Wie lange wohnen Sie schon in Würzburg?«, fragte Kilian.
»Sie meinen, hier in dieser Wohnung?«
Das meinte er zwar nicht, er nickte aber trotzdem.
»Diesen Sommer werden es sechs Jahre.«
Sechs Jahre in diesem Loch?, fuhr es Kilian durch den Sinn.
Vanderbuilt ahnte, was er dachte. »Ich glaube, Sie haben eine völlig falsche Vorstellung vom KünstlerDasein.«
»Erzählen Sie«, forderte Kilian ihn auf. Es interessierte ihn tatsächlich. Was man sonst über Sänger, Schauspieler und Stars in der Presse erfuhr, waren ohnehin nur Klischees.
»Das, was in den Hochglanzmagazinen steht, ist reine Illusion«, begann Vanderbuilt. »Nur ein Prozent schafft es an die Spitze und kann gut davon leben. Der Rest kämpft an der Armutsgrenze für Erfolg und Anerkennung.«
»Warum tun Sie sich das an? Es gibt doch Alternativen.«
»Nicht für einen echten Künstler. Er hat eine Berufung, eine Verpflichtung seiner Kunst gegenüber. Er füllt sie aus, geht in ihr auf, ist ihr verfallen, rückhaltlos, ohne Sicherheitsnetz. Das heißt, er verzichtet auf Familie, Freunde und eine gesicherte Zukunft.
In meinem Fall gilt der Spruch: Das Theater ist ein Irrenhaus, die Oper aber die Abteilung für die Unheilbaren. So gesehen bin ich nicht therapierbar.«
Er grinste, ein melancholisches Lächeln. Kilian erwiderte es. »Ich muss fragen, wo Sie zum Zeitpunkt des Anschlags auf Raimondi waren.«
»Welches? Des ersten oder des zweiten?«
»Bei beiden.«
»Ich bin also doch verdächtig?«
»Ich kann es nicht verneinen. Sie haben ein Motiv.«
»Dass Raimondi schuld an meiner verkorksten Karriere ist?«
Kilian nickte.
»Sie irren sich. Raimondi hat zwar dazu beigetragen, aber er ist nicht allein dafür verantwortlich.«
»Sondern?«
»Ich bin ein Opfer der Umstände. Das Glück hat es nicht gut mit mir gemeint. Wobei …«, er dachte nach, korrigierte sich, »ich darf nicht klagen. Ich bin seit sechs Jahren wieder in einem festen Engagement. Ich gehöre damit zu den wenigen Glücklichen.«
»Sie wollen damit sagen, dass Sie keinen Groll gegenüber Raimondi verspüren? Er hat Ihnen schließlich Ihre Karriere versaut.«
»Er und ich werden sicherlich keine Freunde mehr werden. Ich gebe auch zu, dass sein plötzliches Ableben mich nicht in eine tiefe Depression stürzen würde. Doch der Schritt hin zu einem oder zwei Mordanschlägen ist weit. Ich bin ihn nicht gegangen.«
Kilian ließ die Worte auf sich wirken, dachte über das Gesagte nach und schaute ihm dabei in die Augen. Vanderbuilt schien emotionslos, so wie es manche Mörder sein können. In diesem Fall hatte er jedoch das Gefühl, dass er nicht zu dieser Sorte gehörte.
»Nochmal, wo waren Sie zum Zeitpunkt der beiden Anschläge?«
»Beim ersten war ich in meinem Zimmer im Theater.«
»Gibt es einen Zeugen?«
»Nein, ich war alleine. Ich habe meinen Part einstudiert. Raimondi verzeiht keinem eine schlechte Vorbereitung.«
»Und beim zweiten?«
»War ich hier.«
»Zeugen?«
»Meine Vermieterin könnte mich gesehen oder gehört haben. Sie hält zwar spätnachmittags immer ein Schläfchen, aber sie hat Augen und Ohren wie ein Luchs.«
Also musste Kilian sie auch noch befragen. Er war von der Vorstellung nicht begeistert.
»Wer könnte noch ein Motiv haben, Raimondi an den Kragen zu gehen?«, fragte Kilian.
»Sicher einige Dutzend Leute. Er polarisiert. Man liebt oder man hasst ihn.«
»Ich meine, hier in Würzburg.«
Vanderbuilt grübelte. »Schwer zu sagen. In seiner Anfangszeit war ich noch nicht am Mainfrankentheater, wie viele andere auch. Ich könnte auf niemanden mit dem Finger zeigen.«
Kilian beließ es dabei, bedankte sich für die Bereitschaft, ihm Rede und Antwort zu stehen. Die Türklinke in der
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