Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
nein, dass das Management Probleme damit hatte, die Produktion zu vermarkten. Also suchten sie nach einem Aufhänger.
Raimondi wurde engagiert. Das wurde von den Medien zwar wahrgenommen, aber es reichte noch nicht aus. In einem solchen Fall greift man auf Bewährtes zurück, und man inszeniert einen Skandal. Ich spielte die Rolle des Opfers …«
Kilian unterbrach. »Sie meinen, es war ein abgekartetes Spiel, bei dem Sie eingeweiht waren?«
»Nicht von Anfang an, erst später wurde mir klar, dass sie eine Scharade aufführten.«
»Wer waren ›sie‹?«
»Raimondi und der Intendant. Letzterer bestreitet es zwar noch heute, aber er war mit von der Partie. Eindeutig.«
»Und Raimondi? Hat er es je zugegeben?«
»Wo denken Sie hin. Ein Raimondi braucht sich nicht zu erklären. Er ist einfach da, singt und füllt die Kassen. Mehr wird von ihm nicht erwartet.«
»Zurück zu den Ereignissen von 1994. Was passierte genau? Aus Ihrer Sicht.«
»Zuerst müssen Sie wissen, wie Drama funktioniert. Die Grundaufstellung benötigt zwei Darsteller, ungefähr gleich stark. Dann kommt der Knochen ins Spiel, um den sich beide streiten. Wer ihn am Ende bekommt, ist der Held, der andere der Verlierer.
Bis Raimondi ans Haus kam, war ich der Held. Besser gesagt, ich wurde als kommender Tenor in der Presse gefeiert. Das reichte jedoch nicht, um die aufwendige Produktion zu rechtfertigen. So wurde ein Star eingekauft, Raimondi. Seine Aufgabe war es, für Wirbel zu sorgen. Das hat man bereits damals von einem wirklichen Star erwartet. Einfach nur gut sein reichte nicht mehr. Sie brauchen das Ereignis, so wie es McEnroe und Becker früher im Tennis waren. Sie zelebrieren ihr Spiel, anstatt es nur zu spielen.
Nun, die Medien und die Zuschauer bekamen ihre Show. Das, worum es ging, der Knochen, war die Vorherrschaft auf der Bühne. Wer von uns beiden würde sich durchsetzen? Ich hatte meine Befürworter, so wie Raimondi die seinen. Als das nicht mehr reichte und die öffentlichen Diskussionen versiegten, kurz vor der Premiere, kam dieser lächerliche Giftanschlag ins Spiel. Ich nehme an, Raimondi hat sich das Zeug selber eingeflößt. Nichts Ernsthaftes, aber es reichte für eine leichte Vergiftung.
Sein Magen war schnell ausgepumpt und die Schlagzeile bereits gesetzt. An den folgenden Tagen bis zur Premiere brach die Hölle über mich herein. Ich wurde mit Anschuldigungen und Verunglimpfungen überschüttet. Selbst meine Befürworter gingen auf Abstand.
Letztlich war die Produktion ausverkauft, und sie blieb es für viele Wochen. Der Trick hatte funktioniert, alle waren glücklich.«
»Was ist danach mit Ihnen passiert?«
»Die letzte Vorstellung des Figaro war auch die meine. Ich war ausgebrannt. Mein Engagement wurde nicht verlängert. Andere Häuser, an denen ich mich bewarb, wollten nichts von mir wissen. Die nächsten Jahre verbrachte ich mit allen möglichen Gelegenheitsarbeiten.«
»Wieso gingen Sie nicht nach Hause zurück?«
»Zurück in die Staaten?«
Kilian nickte. Vanderbuilt grinste gequält.
»Ich habe nicht all die Jahre geschuftet, damit ich nach der ersten Schwierigkeit reuig an die Tür meines Vaters klopfe.«
Kilian konnte das verstehen. Dennoch fragte er:
»Was wäre so schlimm daran gewesen?«
»Sie kennen meinen Vater nicht. Er ist im Geist seines Vaters aufgewachsen. Und das hieß: Disziplin, Fleiß und Ordnung.«
»Klingt ziemlich deutsch.«
»Meine Großmutter stammte aus der Nähe von Aachen. Zusammen mit ihrem Mann, einem Holländer, gingen sie nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in die Staaten.«
»Ihr Vater hat im Ersten Weltkrieg aufseiten der Deutschen gekämpft?«
»Er war überzeugter Wilhelmist. Die deutschen Tugenden gingen ihm über alles. Ein Glück, dass sie nicht in Südwest-Afrika gelandet sind.«
»Wie kamen ihre Großeltern durch die amerikanischen Passkontrollen?«
»Er reiste mit seinem holländischen Pass, und meine Großmutter fiel da nicht weiter auf. Ihre Papiere seien beim Einmarsch der Deutschen verbrannt, sagten sie.«
»Wo sind Sie aufgewachsen?«
»In Pennsylvania. Da gibt es eine Gegend mit vielen Orten, die von ausgewanderten Deutschen gegründet worden sind. Das Deutschtum in meiner Familie wurde auf diese Weise erhalten. Ich wuchs mit deutschem Liedgut und klassischer Erziehung auf. Mein Vater war ganz versessen darauf, dass sein Sohn die Werte der Alten Welt vermittelt bekam.«
»Wie muss man sich das vorstellen?«
»Täglich drei Stunden
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