Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
näher er dem Treppenaufgang zum Oberen Foyer kam, desto verständlicher wurden die Wortfetzen. Er nahm die letzten Stufen leise und versteckte sich an der Brüstung. Über den Handlauf blickend, erkannte er Isabella Garibaldi, Aminta Gudjerez und Paul Batricio auf dem Sofa sitzen. Vor ihnen auf dem Glastisch lagen Papiere ausgebreitet. Batricio hielt einen goldverzierten Füllfederhalter in der Hand, mit dem er Aminta drängte, die Papiere zu unterzeichnen, wobei er voller Entrüstung über Amintas Zurückhaltung lamentierte. Die Garibaldi saß wie versteinert da, die Beine übereinander geschlagen, und rauchte eine Zigarette.
»Ich will doch nur ein bisschen Bedenkzeit«, bat Aminta.
»Wofür?!«, fuhr Batricio sie an. »Es war doch alles längst abgesprochen. Ich weiß nicht, was es da noch zu überlegen gibt. Das ist die Chance deines Lebens.«
»Vielleicht ist es zu früh für mich, vielleicht sollte ich noch ein Jahr hier oder woanders arbeiten, bevor ich den Schritt nach Zürich wage.«
Batricio rang nach Luft. »Wie bitte?! Hier oder woanders …? Wer hat dir diesen Blödsinn eingeflößt? Hier und heute ist der beste Augenblick, deine Karriere auf den Weg zu bringen. Was willst du denn noch dazulernen? Deine Stimme ist nahezu perfekt, deine schauspielerischen Fähigkeiten offenkundig, und deine ersten Rollen hast du mit Bravour ausgefüllt.«
»Ich bin mir nicht mehr sicher.«
»Was meinst du, verdammt? Wessen bist du dir nicht mehr sicher?«
Aminta rang nach Worten, wollte ihm die Wahrheit nicht direkt ins Gesicht sagen.
Die Garibaldi verstand. Sie erwachte aus ihrer Lethargie, drückte die Zigarette aus und sammelte die Unterlagen ein.
»Was die junge Dame sagen will, ist, dass sie dir nicht mehr vertraut. So ist es doch, Aminta. Oder irre ich mich?«
Während die Garibaldi die Unterlagen ordnete, blickte sie Aminta an. »So ist es doch. Sag es, dann sparen wir uns Zeit und Mühe.«
Aminta schwieg, lehnte sich zurück und schaute ins Leere.
Batricio hatte an alles gedacht, doch damit hatte er nicht gerechnet. »Aminta, nun mach den Mund auf und sag, dass das nicht wahr ist.«
Er erhielt keine Antwort.
»Aminta, schau mich an. Wir sind ein Team. Schon vergessen? Wir haben geschworen, dass wir es schaffen. Zusammen, ganz an die Spitze des Geschäfts. In zwei Jahren singst du an der Met, in London und Sydney. Das ist es doch, was wir beide wollten.«
Sie schwieg weiter.
Die Garibaldi nicht. »Paul, wir hatten eine Abmachung. Per Handschlag, unter Zeugen. Du weißt, dass das bindend ist. Den Regress wirst du dir nicht leisten können. Weder finanziell, noch was deine Reputation betrifft. Wenn ich morgen ohne unterschriebenen Vertrag nach Zürich zurückkehre, bist du geliefert. Also, überleg dir das gut. Sprich nochmal mit ihr. Mach ihr klar, was auf dem Spiel steht. Du erreichst mich auf dem Handy.«
Die Garibaldi packte den Vertrag in den Aktenkoffer, stand auf und ging in Richtung Treppe. Kilian versuchte nicht zu flüchten. Die Garibaldi zeigte sich kurz überrascht, dann lächelte sie ihm zu.
»Wenn ich noch was für Sie tun kann, bis morgen bin ich in der Stadt«, bot sie ihm an und ging weiter.
»Danke«, sagte er leise. »Ich melde mich.«
Batricio war aufgestanden. Zwischen den großflächigen Fenstern und dem Tisch wanderte er umher, massierte Schläfen und Nacken, als gelte es, eine böse Ahnung zu vertreiben.
Aminta wartete unbeeindruckt auf die drohende Moralpredigt.
»Was ist seit gestern passiert?«, fragte Batricio. »Es war doch alles mit dir abgesprochen, und du warst mit allem einverstanden. Und jetzt plötzlich ist alles anders. Sag mir nur, was ist passiert?«
Aminta blieb weiterhin stumm. Doch jetzt ging Batricio auf sie zu, packte sie an den Armen. »Sprich mit mir, verdammt. Los, mach endlich den Mund auf.« In ihrem Blick lagen Verachtung und ungläubiges
Staunen, dass er es wagte, sie anzufassen.
»Nimm deine Finger weg!«
»Nicht eher, bis du mir sagst, was mit dir los ist.« Batricio sah die Ohrfeige nicht kommen. Er ließ Aminta los, fuhr sich über die Wange.
»Ich wollte es dir eigentlich schonender beibringen«, begann Aminta, »doch du zwingst mich ja dazu, dir wehzutun.«
Batricio horchte auf. Sein Blick verriet, dass er ahnte, was jetzt kommen würde.
Aminta stand auf und blickte ihm direkt in die Augen.
»Ich habe nachgedacht und für mich entschieden, dass wir uns für eine Weile trennen sollten. Jeder sollte für sich herausfinden, was er
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