Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
genau will.«
»Aber das weiß ich doch, die ganze Zeit«, widersprach Batricio.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich jedenfalls brauche etwas Abstand, Zeit und eine neue Umgebung, um mich entscheiden zu können.«
Batricio war sich sicher, dass sie niemals alleine auf diesen Gedanken gekommen war. »Alleine … jeder für sich … entscheiden. Wer hat dir diese Flausen in den Kopf gesetzt?«
Sie drehte sich weg. »Paul, hör auf.«
Er zog sie an sich heran. »Komm, erzähl, wer hat dir dazu geraten? Wer will dich mir wegnehmen?«
»Paul, lass das. Bitte!«
Sie wand sich blitzartig aus seinem Griff, packte ihre Tasche und verschwand im Eingang zum Großen Saal. Batricio blieb zurück. Kilian beobachtete ihn noch eine Zeit lang. Doch als nichts weiter geschah, ging auch er in den Großen Saal.
Er machte es sich wie gewöhnlich in der Mitte des leeren Zuschauerraums bequem. Ihm fiel auf, dass er viel zu weit von der Bühne entfernt saß, um bei einem weiteren Anschlag schnell genug bei seinem Schützling zu sein. Deshalb stand er wieder auf und setzte sich in die erste Reihe. Von hier aus musste er nur noch den Orchestergraben überwinden und wäre mit zwei schnellen Schritten auf der Bühne.
Dem Kollegen, der am Bühnenrand über Raimondi wachte, gab er ein Zeichen, dass er in die Mittagspause gehen konnte. Kilian nahm einen Klavierauszug zur Hand, der auf dem Rand des Orchestergrabens lag. Die heutige Szene war die der Zerlina und des Masetto. Im Grunde genommen war sie eine Verführungsarie, in der Zerlina den wütenden Masetto besänftigt.
Auf der Bühne positionierte Raimondi die beiden Darsteller der zu probenden Szene. Aminta in der Rolle der untreuen Zerlina ging nach links und Ferdinand, der österreichische Bariton, als eifersüchtiger Masetto nach rechts. Zwischen ihnen lag nicht nur die gesamte Breite der Bühne, sondern auch der Plan, dass sich Zerlina an ihrem Hochzeitstag mit
Don Giovanni
auf dessen Schloss davonmachen wollte. Masetto beschimpfte seine Angetraute als Schlange und Straßenmädchen, weil sie mit
Don Giovanni
gegangen war und sich nicht dagegen gewehrt hatte.
»Wenn jetzt jeder weiß, was zu tun ist, können wir beginnen«, befahl Raimondi. Er gab Sue am Klavier das Zeichen. Er selbst blieb zwischen Zerlina und Masetto stehen, um die beiden besser dirigieren zu können.
»Andante grazioso. Bitte sehr«, sprach er leise, aber laut genug, dass alle im Saal das Kommando verstanden.
Zuckersüß stimmte Zerlina ihre Versöhnungsarie
Batti, batti, o bel Masetto
9 an. Ihre Augen blickten kurz auf, zu Masetto hinüber, gespielt schamhaft und berechnend.
Raimondi streckte den Arm nach ihr aus, wies sie mit Fingerspiel an, näher zu kommen, zum mürrisch abwartenden Masetto, der die Arme verschränkt hielt und am Bühnenrahmen lehnte. Sie gehorchte, wie an der Schnur gezogen bewegte sie sich vorsichtig an Raimondi vorbei, schlich sich an Masetto heran und umgarnte ihn.
Ihren Text konnte man auch ohne Italienischkenntnisse verstehen. Sie hieß Masetto, ihr die Augen auszukratzen, um danach sich von ihm die Hände küssen zu lassen. Ihr Spiel war gut, raffiniert, graziös, und sie war sich ihrer Reize durchaus bewusst. Der tölpelhafte Masetto, von Verführung und falschem Spiel nichts ahnend, ließ sich erweichen, nannte sie gar zum Schluss spaßeshalber eine Hexe, wie sie ihm den Kopf verdrehe.
Weit hinter Kilian öffnete sich die Eingangstür. Als er sich umdrehte, erkannte er Batricio. Er setzte sich ein paar Meter hinter ihm in eine Reihe und beobachtete Aminta, die sich von ihm trennen wollte, um bei einem anderen ihr Glück zu finden. Wer derjenige war, hatte er in dem kurzen Gespräch zwischen den beiden nicht erfahren. Doch was sich auf der Bühne nun abspielte, sollte diese Frage beantworten.
Raimondi konzentrierte sich ausschließlich auf Aminta und ihr Spiel der verführerischen Zerlina.
»Wenn du die Zerlina überzeugend spielen willst, dann musst du sie und ihre Motivation leben«, sagte er wie ein Lehrer zu seinem Lieblingsschüler. »Vor deiner Arie hast du deinen Gatten am Hochzeitstag für eine bessere Partie verraten.
Don Giovanni
versprach dir das Leben einer Edelfrau, anstatt ein Leben bei Masetto zwischen Kühen und Mist zu führen. Du hast
Don Giovanni
zögernd nachgegeben, so leicht wolltest du es ihm auch nicht machen. Aber du hast noch einen Rest Moral, wenn auch nur einen kleinen, in dir. Dein Andiam, dein Einverständnis, mit
Don Giovanni
zu gehen,
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