Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
kaufen. Ich wette, dass mindestens hundert Frauen damit durch die Gegend spazieren.«
»Auch wenn diese Proben das gleiche Mischverhältnis zeigen?«
»Ja, verdammt«, antwortete nun Marianne. »Es ist kein Geheimnis, dass Frauen aus unterschiedlichen Düften ihren eigenen Duft zusammenstellen. Und das tun sie auch unter Zuhilfenahme von irgendwelchen Anleitungen, die in jeder zweiten Frauenzeitschrift abgedruckt sind.«
»Sie wollen also behaupten, dass Sie die Duftstoffe gekauft und nach Anleitung zusammengestellt haben, so wie es andere Frauen in dieser Stadt auch getan haben könnten?«
»Ja, verflucht!«
»Wir werden sehen. Morgen werde ich Sie jemandem gegenüberstellen, der Ihnen die Waffe verkauft hat. Bis dahin bleiben Sie mein Gast.«
*
Die Initiatoren nutzten die Gunst der Stunde. Wenn sich wegen der Berichterstattung um den
Don Giovanni
mehr Presse in der Stadt aufhielt als sonst, dann galt es schnell zu handeln. Die Genehmigung der Stadtverwaltung war im Handumdrehen eingeholt.
Die Demonstration der Belegschaft gegen die drohende Schließung des Theaters startete auf dem Platz vor dem Theater, führte durch die Eichhornstraße auf den Oberen und Unteren Markt und sollte mit einer Erklärung am Vierröhrenbrunnen gegenüber dem Rathaus enden. Zu den Initiatoren der Veranstaltung gehörten neben Franziska, Kayleen und dem Betriebsratsvorsitzenden auch verschiedene Vereine, die sich der Kunstförderung in Stadt und Landkreis verschrieben hatten. Die Aktion war zur publikumsstärksten Uhrzeit um siebzehn Uhr geplant, wenn der Feierabendverkehr auf sein Maximum zusteuerte.
Ausgestattet mit Schildern und Megaphon, die die drohende Arbeitslosigkeit der Künstler und den Niedergang der Kultur heraufbeschworen, zog der Tross los.
Die Kostümabteilung hatte auf die Schnelle ihr Bestes getan, um die Mitglieder des Chors und die Sänger in die abgerissenen Lumpen in einem Gefangenenchor zu verwandeln. Mit dem berühmten Thema aus Verdis Nabucco auf den Lippen marschierten sie die Theaterstraße entlang, gleich einer Totenprozession, bis zum Bürgerspital, wo sie in die Eichhornstraße einbogen. Andere Künstler trugen Kostüme aus laufenden Produktionen. Da fand sich eine Gruppe von Nonnen aus dem
Dialogues des Carmelites
, Figuren aus dem Liebestrank und dem
Don Giovanni
. Sie wollten damit zeigen, was die Stadt und ihre Bürger aufgaben, wenn das Theater geschlossen würde. Das Verkehrschaos, das sie damit provozierten, war Teil ihres Planes. Lautes Hupen und der Gesang des Gefangenenchors hallten in den engen Straßen wider. Je mehr Aufmerksamkeit die Theaterleute für ihr Anliegen gewinnen konnten, desto mehr hofften sie auf die Unterstützung der Bevölkerung. Und tatsächlich, immer mehr Passanten schlossen sich dem Tross an. Aus Seitengassen, Geschäften und Mietshäusern kamen sie hinzu, dünnen Rinnsalen gleich, die sich zu einem mächtigen Strom vereinigten.
Straßenbahnen und Taxis kapitulierten, als der Zug auf dem Oberen Markt eintraf. Aus den ursprünglich dreihundert Demonstranten war inzwischen die doppelte Menge geworden. Musiker, Schauspieler, Sänger und Tänzer taten ihr Bestes, um Gehör zu finden und für ihr Anliegen zu werben. Sie verteilten sich auf die Hauptund Seitenstraßen, so wie es nur zweimal im Jahr in der Stadt Brauch war – zu Fastnacht und zu Beginn des Afrika-Festivals. Es wurde gesungen, getanzt, gespielt und aus den Klassikern rezitiert.
Das geschäftige Treiben der Innenstadt erlahmte. Die steten Rufe, die nach Rettung und Förderung des zentralen Kulturträgers im Umkreis von hundert Kilometern verlangten, übertönten alles andere.
Auf dem Platz des Vierröhrenbrunnens fügten sich die einzelnen Ströme wieder zu einem einzigen großen zusammen. Er reichte hinauf bis zum Kiliansdom und füllte den Aufgang zur Alten Mainbrücke und den in die Karmelitenstraße.
Der Betriebsratsvorsitzende erklomm die steinerne Brüstung des Brunnens aus dem achtzehnten Jahrhundert. In seinem Zentrum erhob sich eine Säule, an deren Spitze die Franconia, die Personifizierung Frankens, thronte. Nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet waren vier Figuren angebracht, die die vier Kardinaltugenden symbolisierten – Mäßigung, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit. Der Legende nach sollten sie den Stadtratsmitgliedern als Grundlage ihrer Arbeit dienen.
Der Mann, der auf der Brüstung balancierte, nahm das Megaphon zur Hand. Er richtete seine Ansprache auf das Rathaus, wo die
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