Der Gesang der Hölle: Kommissar Kilians vierter Fall
beantwortete Raimondi Fragen. Zu Kilians Überraschung ließ Raimondi den unscheinbaren Bühneneingang links liegen und führte die Journalisten zum Haupteingang. Dort warteten die Sänger und Sängerinnen des Don-Giovanni-Ensembles. Sie hatten Schilder und selbst gemalte Plakate in der Hand, die sie als arbeitslos und ausgesperrt bezeichneten. Kilian erkannte Kayleen, Debbie, Aminta, Roman, Takahashi und sogar Steven Vanderbuilt. Sie demonstrierten für die künstlerische Freiheit und gegen das Diktat eines senilen Kulturmonarchen.
Raimondi mischte sich unter sie. Umrahmt von seinem Ensemble, richtete er sein Anliegen direkt in die Kamera.
»Wir fordern Zugang zu unserem Arbeitsplatz, der uns von der Stadt Würzburg, in Person des Intendanten, verwehrt wird. Wir widersprechen jeglicher Maßregelung bei der Ausübung unseres Berufes. Dies tun wir im Geiste Mozarts, der jeglicher Bürokratisierung seiner Musik entschieden entgegengetreten wäre.«
Raimondi drehte sich zur Eingangstür um, versuchte sie zu öffnen. Sie war verschlossen. Der Akt als solcher hatte symbolischen Charakter, er hätte nur ein paar Meter weiter zum Bühneneingang gehen müssen. Der wäre offen gewesen. Doch das passte natürlich nicht in sein Kalkül.
Mit der verschlossenen Tür ging die Berichterstattung von den ausgesperrten Künstlern zu Ende. Weitere Interviewfragen lehnte Raimondi ab, er verwies auf den Intendanten, dessen Stellungnahme die Zuschauer sicherlich interessieren würde.
Zusammen mit seinen Sängerinnen und Sängern verließ Raimondi den Theatervorplatz. Sie gingen eine Seitenstraße weiter in die Oeggstraße und betraten das zweite Theatergebäude, wo neben der Kostümabteilung auch Probenräume untergebracht waren.
Kilian fragte sich, was hier eigentlich gespielt wurde. So unglaublich, wie er die Entscheidung Reichenbergs auch fand, noch unglaublicher war, dass Raimondi mit aller Gewalt zurück an seinen Arbeitsplatz drängte. Raimondi wäre normalerweise der Letzte, der sich um so etwas kümmern würde. Er hätte einfach sein nächstes Engagement angetreten.
Als sie in einem Probenraum die Tür hinter sich verschlossen hatten, löste sich die Anspannung.
Raimondi klatschte anerkennend in die Hände.
»Vielen Dank, meine Damen und Herren, das war sehr gut umgesetzt.«
Na, also, wie es Kilian vermutet hatte: Die Story von Kündigung und Aussperrung war ein einziger Mummenschanz gewesen.
»Was wollen Sie damit bezwecken?«, fragte Kilian.
»Nichts anderes als Öffentlichkeitsarbeit«, antwortete Raimondi gelassen. »Es ist Teil meiner Arbeit, ein möglichst großes Interesse an der Aufführung zu generieren.«
»Mit Lügen und falschen Anschuldigungen?«
»Das sind moralisierende Begriffe für das, was wir im Theaterbereich als Promotion bezeichnen. Glauben Sie im Ernst. dass es bei anderen Produktionen anders läuft?«
Kilian dachte kurz nach, er wusste es nicht. »Keine Ahnung, ich bin nicht aus dem Metier.«
»Das ist eine ehrliche Antwort, die ich schätze. Darum überlassen Sie es mir, die Moralkeule auszupacken, wenn es angebracht ist. In diesem Fall ist es nicht notwendig. Vertrauen Sie mir.«
Raimondi ließ keinen Moment ungenutzt. Er wandte sich wieder seinen Künstlern zu, ordnete an, dass sie verschiedene Rezitative üben sollten. Nach der Pause würde man über den Hintereingang zu den Werkstätten wieder im Großen Saal arbeiten können.
Wie bestellt und als ob nichts gewesen sei, betrat Franziska den Raum. Sie setzte sich hinter das Piano und breitete den Klavierauszug aus. Von Sue, der eigentlichen Pianistin, war nichts zu sehen. Auch Franziska wusste keine Antwort darauf, wo sie abgeblieben war. Kilian glaubte in ihrem Gesicht so etwas wie Routine zu erkennen. Keine Spur von Aufregung wegen der Vorfälle an diesem Morgen. Er schien der Einzige zu sein, der nicht eingeweiht war. Er ging vor die Tür. Sein Kollege in Zivil hatte bereits im Gang Stellung bezogen. Wusste auch er Bescheid? Kilian fragte nicht, er wollte sich keine Blöße geben.
Kilian beschloss bei einem Kaffee im Choko Chanel, über alles nachzudenken. Beim Überqueren der Theaterstraße erkannte er den Pressesprecher der Stadt und des Theaters, wie er den Journalisten Rede und Antwort stand. Aus dem Pulk löste sich jemand heraus und folgte Kilian. Es war der Reporter der Frankfurter Allgemeinen. Er setzte sich ungefragt zu Kilian an den Tisch.
»Sie wünschen?«, fragte Kilian.
»Mein Name ist Felix Severin von der
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