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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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sich vorstellen würde? Hallo, ich bin dein
Sohn, und wie ist der Name meiner bezaubernden kleinen Schwester? Für einen
Augenblick spürte er, wie ihn der bittere Neid zu übermannen drohte. Dieses
kleine Mädchen hatte alles, wovon er jemals geträumt hatte. Eine Familie, die
zu ihr gehörte. Eine Mutter, die sie liebte. Und sie nahm alles als
selbstverständlich hin, ahnte gar nicht, welchen Reichtum sie da ihr Eigen
nannte.
    Die Bedienung stellte das Kännchen mit dem Tee vor ihm ab und verschwand
ohne ein weiteres Wort wieder hinter der Theke des Cafés. John sah ihr
hinterher, ohne dass er irgendetwas wahrnahm. In seinem Kopf rasten die
Gedanken wie in einem wirbelnden Karussell. Sicher, er konnte sich jetzt in das
Leben dieser Frau drängen. War er dann auch nur einen Deut besser als sein
grausamer Ziehvater, der dieser Frau schon einmal ihr Leben entrissen hatte?
Der sie auf eine Heimreise geschickt hatte, die sie nicht hatte antreten
wollen, in eine Zukunft, die sie sich nie erträumt hatte – und ohne ihren Sohn,
den sie wahrscheinlich nie verlieren wollte? Und jetzt hatte sie es geschafft,
hatte sich ein neues Leben und ein neues Glück aufgebaut – und er wollte das wieder
zerstören? Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. Nein, so wollte er nicht
sein. Er hatte sich nicht von George Cavanagh losgesagt, um dann doch wieder in
seine Fußstapfen zu treten.
    Er sah erneut nachdenklich zu dem Tisch mit Mutter und Tochter
hinüber. Sah seine Mutter an und versuchte, sich jedes Detail einzuprägen. Den Glanz
ihrer Haare, die kleine Strähne, die sich immer wieder aus dem locker
geflochtenen Haarknoten löste. Die langen Finger, mit denen sie ihre Tasse
umfasste, und die etwas steif und aufrecht gehaltenen Schultern, die ihr eine
strenge Ausstrahlung verliehen. Der weiche Schwung der Lippen, um die beständig
ein Lächeln spielte. Lippen, die ihm vertraut vorkamen, denn seine hatten genau
die gleiche Form. Die Art, wie sie ihre Knie übereinanderschlug und mit dem
einen Fuß ungeduldig wippte, so als ob sie jede Sekunde losrennen würde.
    Dann griff er in seine Hosentasche, legte das Geld für den Tee, den
er nicht angerührt hatte, auf den Tisch, stand auf und ging. Er sah sich nicht
mehr um, hoffte, dass keiner sah, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen.
Er hatte seiner Mutter das Glück und die Freiheit gegeben, aber er musste dafür
den höchsten Preis bezahlen: seine Hoffnungen und all seine Träume, die er für
die Zukunft gehabt hatte. Er hatte nie weiter gedacht als bis zu diesem Moment:
Wenn er Ava endlich gefunden hätte und sich ihr offenbaren würde. Dann hatte in
seinen Träumen der Himmel offen gestanden, und alle Chöre hatten gesungen – und
danach hatte eine leuchtende Zukunft auf sie beide gewartet.
    Stattdessen lief er jetzt diese Straße in Berlin hinunter, völlig
ohne Ziel und Zweck. Er wollte nur noch weg, fort von diesem Ort, an dem seine
Hoffnungen so brutal zerplatzt waren. Er ließ sich auf irgendeine Bank fallen,
sah den Enten zu, ohne etwas wahrzunehmen, spürte den Wind in seinem Gesicht,
ohne etwas zu fühlen. Es wurde Nachmittag und schließlich Abend, bis er sich
wieder erhob. Es war ihm nicht danach, eine weitere Nacht auf einer Parkbank zu
verbringen. Immerhin, gestern waren die Buletten in dieser Kneipe nicht
schlecht gewesen – und wenn ihm das Denken nach zwei oder drei Bier schwerer
fiel als sonst, dann sollte ihm das nur recht sein. Vielleicht brachte er so
die Stimmen in seinem Kopf zum Verstummen, die in einem fort sagten: Geh
zurück! Sag Ava, wer du bist! Stimmen, die er auf gar keinen Fall hören wollte.
    Die Kneipe – oder zumindest eine sehr ähnliche – war schnell
gefunden. Er setzte sich auf einen Barhocker, fern von den anderen Gästen, und
bestellte schnell hintereinander ein paar Bier. Auf die Buletten verzichtete
er. Irgendwann setzten sich einige Männer zu ihm, an die er am nächsten Morgen
keine Erinnerung mehr hatte. Er erwachte in einer kleinen Kammer ohne Fenster,
in der nur ein paar Matratzen auf dem Boden lagen. Mühselig und mit gewaltigen
Kopfschmerzen erhob er sich, suchte eine Tür und drückte sie neugierig auf. Er
fand sich im Schankraum der Kneipe wieder, die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen
schienen durch die Fenster und beleuchteten die verklebte Theke, den dreckigen
Boden und die vollen Aschenbecher.

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