Der Gesang der Maori
auch wirklich alles über das Erdbeben in Christchurch und seine Folgen
wissen. Katharina beantwortete ihm seine Fragen, so gut sie konnte, und fand
sich dann auch schon am Familientisch wieder. Sie sollte bei einem üppigen
Abendessen mit reichlich kaltem Braten und einem groÃen, frischen Salat
weitererzählen, wie es denn den Cavanaghs gehe. Die Gesichter wurden ernst, als
sie von Avas Krankheit erzählte. Aber mit dem unverbrüchlichen Optimismus, der
den Neuseeländern einfach angeboren ist, erklärte William schlieÃlich: »Ich bin
mir sicher, du wirst John finden â und ich bin mir ebenso sicher, dass sein
Blut dann perfekt passen wird. Pass nur auf: Durch Avas Krankheit wird die
Familie enger als jemals zuvor zusammenwachsen!«
Katharina versuchte, mit einem
Lächeln über ihren Unglauben hinwegzutäuschen. Im wirklichen Leben ging eben
nicht immer alles so gut aus wie in einem Märchen â¦
William erhob sich schlieÃlich. »Aber wir wollen nicht nur von den
traurigen Dingen des Lebens reden. Jetzt gehen wir noch in eine Bar. Nirgendwo
in Neuseeland macht das Nachtleben so viel Spaà wie in Wellington, du solltest
wenigstens ein bisschen davon mitbekommen.« Seine Frau lachte und stimmte ihm
zu. »Macht euch auf den Weg! Und kommt mir ja nicht zu schnell wieder â¦Â«
In einer lärmenden Kneipe mit fröhlichen Studenten konnte Katharina
dann tatsächlich das erste Mal seit ihrer Ankunft in Neuseeland an etwas
anderes als Erdbeben und Krankheit denken. Sie genoss den sorglos-fröhlichen
Abend in vollen Zügen â und hatte später in dem bequemen Hostelbett doch ein
schlechtes Gewissen. Wie konnte sie nur feiern, wenn die kleine Ava mit dem Tod
kämpfte? Der Schlaf lieà trotzdem nicht lange auf sich warten â¦
Am nächsten Morgen machte Katharina sich aber erst einmal auf, die
Stadt zu erforschen. Mit dem alten Cable Car fuhr sie in die Botanischen Gärten
und genoss den Blick von den Kelburn Heights über die komplette Stadt. Am
frühen Nachmittag machte sie sich auf zum Nationalmuseum Neuseelands, das erst
wenige Monate zuvor eröffnet worden war â ein gewaltiges gelbes Gebäude direkt
am Wasser, das einen Ãberblick über die Geschichte und Natur von Neuseeland
geben sollte. Sie fand sich in der Abteilung über Naturkräfte wieder â der
schlichte Satz »Im Laufe seines Lebens wird jeder Neuseeländer Vulkanausbrüche
oder Erdbeben erleben â einfach, weil er Neuseeländer ist!« lieà sie unbewusst
nicken. Sie sah sich ausgiebig um, bis plötzlich eine Stimme aus dem
Lautsprecher sie aufforderte, nach Hause zu gehen. Das Museum schloss um
achtzehn Uhr. Katharina machte sich widerstrebend auf den Weg zurück in
Williams Hostel. Spätestens morgen musste sie sich unbedingt nach Matamata
aufmachen, wenn sie auch zu gerne noch einen weiteren Tag in diesem Museum verbracht
hätte.
Erst als sie an einem kleinen Restaurant vorbeikam, das Thai-Currys
und japanische Nudelsuppen anbot, spürte sie, wie hungrig sie war. Der Geruch
von frischem Koriander und scharfem Chili war einfach zu köstlich. Augenblicke
später saà sie an einem Tisch in der Ecke, löffelte ein heiÃes, scharfes Curry
und las nebenher den Museumsprospekt noch einmal durch.
»Touristin?«
Katharina sah überrascht hoch. Der Frager hatte schwarze Haare,
leuchtend grüne Augen und ein breites Lächeln. »Ja â¦Â«, setzte sie zögernd zu
ihrer Antwort an, als er sich auch schon zu ihr an den Tisch setzte.
»Ich darf doch?«, fragte er noch, aber offensichtlich hätte er ein
»Nein!« ohnehin nicht gelten lassen. Es folgte eine erklärende Handbewegung
durch das kleine Restaurant. »Leider kein anderer Platz mehr frei«, meinte er
und schnappte sich die Karte. »Schmeckt das, was du da hast?«
Katharina runzelte die Stirn. Hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt auch
nur eine Sekunde lang zu erkennen gegeben, dass sie an einem Gespräch interessiert
war? Soweit sie sich erinnern konnte, nicht. Aber irgendwie wirkte dieser Mann
nicht unsympathisch. Sie musterte ihn verstohlen. Eine vorwitzige Locke fiel
ihm in die Stirn, und die Grübchen auf den Wangen zeigten, dass er nicht selten
lachte. Jeans, Flip-Flops und ein buntes T-Shirt
â die Kleidung sagte hier in Neuseeland herzlich wenig über einen Menschen aus.
Direkt nach Büroschluss verwandelten
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