Der Gesang der Maori
Keine Menschenseele war zu sehen.
John untersuchte kurz den Inhalt seines Seesacks, stellte fest, dass
er nicht beklaut worden war, und machte sich so schnell wie möglich auf, um
diesen Ort wieder zu verlassen. Er hatte keine Ahnung, was er diesen Menschen
erzählt hatte, und er wusste auch nicht, welche Art von Hilfe sie ihm angeboten
hatten â oder ob sie ihm einfach nur beim Trinken Gesellschaft geleistet
hatten. Er wollte es auch nicht mehr wissen.
Nur noch eines war ihm klar: Er wollte nicht in Deutschland bleiben,
wo ihn jeder Moment daran erinnerte, dass er eigentlich nach seiner Mutter gesucht
hatte. Er wollte zurück nach Neuseeland. An den Ort, wo er sich auskannte, wo
die Menschen seine Sprache sprachen und die Städte nicht so groà und
unbarmherzig wie dieses Berlin waren. Er musste auf dem schnellsten Weg zurück
nach Hamburg und dort nach einem Frachter suchen, der ihn zurück in seine
Heimat brachte. Wenn er schon nicht seine Mutter wiederhaben konnte, dann
wollte er wenigstens seine vertraute Umgebung zurück.
Er schulterte seinen Seesack und machte sich auf den Weg.
WELLINGTON, 1998
6.
Katharina schloss die
Augen, als die Fähre die CookstraÃe erreichte. Das unruhige Gewässer der
Meerenge zwischen den beiden Inseln Neuseelands war berüchtigt für seine
unangenehmen Ãberfahrten, bei denen oft genug auch seefeste Reisende über der
Reling hingen. Katharina fühlte sich sicher: Sie hatte eine Tablette gegen
Seekrankheit genommen. Die Sonne stand noch hoch über dem Horizont, und das
Licht gleiÃte über den Wellen.
Sie erinnerte sich genau an den Tag,
als sie diese Reise gemeinsam mit Sina in anderer Richtung gemacht hatte. Sie
hatten die ganze Zeit im Bug an der Reling gestanden und die Delfine
beobachtet, die in der Bugwelle spielten. Damals hatte ihr Sina von ihrem immer
wiederkehrenden Traum erzählt, von dem tanzenden Maori, der ihr so bedrohlich
nahe kam. Auf dieser Fähre hatte Katharina noch gelacht und Sina geraten,
endlich weniger Angst vor dem Leben zu haben. Nur wenig später hatten sie
Brandon kennengelernt, und Sina war auf die Fährte des wechselhaften Lebens
ihrer GroÃmutter gestoÃen. Diese Ava, die in nur wenigen Jahren in Neuseeland
deutliche Spuren hinterlassen hatte.
Katharina lächelte vor sich hin, als sie sich in das Innere der
Fähre zurückzog. Merkwürdig, wie sich innerhalb von nur drei Jahren das Leben
komplett verändern konnte. Aus der hin und wieder viel zu nüchternen Sina war
eine Ãrztin in Christchurch geworden, mit einem liebenden Ehemann und einer
bezaubernden Tochter. Einer bezaubernden, kranken Tochter, korrigierte
Katharina sich insgeheim, während sie einen letzten Blick auf das Meer warf.
Und ihre Aufgabe war es dieses Mal nicht, die traumhafte Landschaft zu
genieÃen, sondern auch ein wenig mehr Hoffnung in das Leben ihrer Freundin zu
bringen.
Sie setzte sich auf einen der bequemen Sessel und nahm die Mappe in
die Hand, in der sie alles gesammelt hatte, was man im Moment über die
Dreharbeiten zu »Der Herr der Ringe« wissen konnte. Sie musste als Erstes in
einen Ort namens Matamata. Da lieà dieser Regisseur Peter Jackson im Moment
Hobbingen aufbauen â und das fast ein Jahr vor Beginn der Dreharbeiten! Sie war
unglaublich gespannt, wie das wohl aussah â und hoffte inständig, dass sie
wenigstens ein paar Bilder würde machen können. Beim Lesen der Artikel merkte
sie erst, wie müde sie war. Die Aufregung um das Erdbeben in Christchurch hatte
sie wohl doch mehr angestrengt, als sie es sich eigentlich hatte eingestehen
wollen. Immer wieder fielen ihr die Augen zu â und irgendwann hatte sie den
Kampf gegen die Müdigkeit verloren. Sie wachte erst wieder auf, als die Fähre
mit einem lauten Tuten in den Hafen von Wellington einlief.
Â
Katharina warf einen Blick
auf den Zettel, auf den Brandon ihr eine Adresse geschrieben hatte. »Kiwi
International Hostel« klang alles andere als eine Superherberge, aber Brandon
hatte ihr versichert, dass dieses Hostel von seinem früheren Studienkollegen
William geführt wurde, der ihr sicher das beste Zimmer geben würde, wenn sie
ihn erst von Brandon gegrüÃt hätte. Und er hatte nicht übertrieben. Nachdem
Katharina einem bärenartig aussehenden jungen Mann mit einem beeindruckenden
Vollbart die GrüÃe ausgerichtet hatte, zog der sie an seine Brust und wollte
alles, aber
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