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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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dichten
Laub herausragte, schmal und leblos. Merkwürdigerweise bemerkte er sogar den
abgebrochenen Fingernagel. Mit einer schnellen Bewegung drückte er die
widerspenstigen Zweige zur Seite. Als Erstes bemerkte er den gelben Stoff des
Kleides, der zerrissen und zerfetzt um den Körper der Frau hing. Der Schlamm
hatte dafür gesorgt, dass die Farbe kaum noch zu erkennen war – aber als er den
roten Gürtel entdeckte, gab es für John keinen Zweifel mehr, wer es war. Inge
lag auf der Seite, die Augen geschlossen, den Pferdeschwanz nass und mit Sand
und Schlamm verdreckt an den Hinterkopf geklebt. Vorsichtig und fast zärtlich
legte John zwei Finger auf ihren Hals. Er hoffte darauf, dass sie noch Wärme
ausstrahlte, er noch einen Puls erspüren könnte. Aber ihr Hals fühlte sich
merkwürdig kühl an, die Haut fest und steif. Er näherte sein Ohr ihrem leicht
offen stehenden Mund. Konnte er einen Atem hören? Er konzentrierte sich nur auf
dieses eine Geräusch, für den Moment das wichtigste Geräusch der Welt. Bildete
er sich das nur ein, oder war da ein leises Röcheln? Mit einer Hand rüttelte er
vorsichtig an ihrer Schulter. »Wach auf, Liebling, wach auf!«, murmelte er
dabei, immer wieder, wie ein inständiges Gebet, das aber niemand hören wollte.
    Er lauschte noch einmal auf das Röcheln, aber alles, was er hören
konnte, waren das Wasser des Flusses, die fernen Rufe der Helfer und das leise
Rauschen der Blätter des Baumes. Inge rührte sich nicht. Vorsichtig nahm John
sie in die Arme, wollte sie aus ihrem Gefängnis unter dem Baum befreien. Erst
jetzt fiel ihm auf, dass sie mit einem Bein unter einem Ast gefangen war. Mit
seiner ganzen Kraft stemmte er sich gegen den Baum, der mit einem widerwilligen
Ächzen ein paar wenige Zentimeter nachgab. Behutsam zog John an Inges Arm. Sie
schien sich fast widerwillig von ihrem Baum zu lösen und glitt aus ihrem
Gefängnis. Dabei drehte sie sich ein wenig, und John konnte zum ersten Mal die
andere Seite ihres Kopfes sehen.
    Bei dem Anblick sog er heftig die Luft ein. »Oh nein«, entfuhr es
ihm unwillkürlich. Direkt entlang des Haaransatzes zog sich ein dunkles Mal. Es
markierte eine eingedrückte Stelle ihres Schädels, die von Blutergüssen übersät
war. Mit diesen Verletzungen musste sie das Bewusstsein verloren haben – und
der Fluss hatte sie dann hierhergetragen. Erst der Baum, der schon vorher als
Treibgut hier liegen geblieben war, hatte ihre Reise beendet. John war sich
nicht sicher, ob er diesen Umstand wirklich als Glück bezeichnen sollte.
Vielleicht hätte es ihrem Wesen mehr entsprochen, mit der Strömung in Richtung Meer
getragen zu werden …
    Unendlich zärtlich nahm John den kalten Leib von Inge in den Arm und
trug ihn nur wenige Meter von dem Baum fort. Auf einer saftigen Wiese ließ er
sie vorsichtig zu Boden gleiten und kniete sich neben sie. Tränen rannen ihm
über das Gesicht, während er sie noch einmal genau musterte. Er wollte niemals
in seinem Leben diese Gesichtszüge vergessen. Nein, das Schicksal hatte in
seinem Leben einfach kein Glück für ihn vorgesehen. Und für Inge wohl auch
nicht. Ein lächerlicher Fluss hatte ihr Glück vernichtet – noch bevor man es
wirklich Glück nennen konnte. Er ließ sich neben sie fallen, nahm ihre Hand in
die seine und schloss die Augen. Wo sollte er jetzt hingehen? Zum zweiten Mal
innerhalb weniger Wochen war ihm ein Ziel abhanden gekommen.
    Während die Sonne am Himmel ganz langsam höher stieg, bewegte John
sich keinen Millimeter weg von seinem Platz. Es schien ihm, als sei nur ein
Moment vergangen, als eine Hand sich auf seinen Rücken legte.
    Â»Sir? Wir müssen Ihre Frau jetzt zu den anderen Opfern bringen. Sie
können sie doch nicht einfach so hier auf der Wiese liegen lassen.« Die Stimme
klang warm und mütterlich. John sah auf. Die Frau, die ihm eben erst den Tee
gegeben hatte – oder war es schon Stunden her? In ihm verschwammen die Ereignisse
des Tages und der Nacht. Trotzdem schüttelte er den Kopf.
    Â»Das war nicht meine Frau. Vielleicht hätte sie es werden können …
Darf ich nicht noch ein Weilchen hier sitzen?«
    Ein bedauerndes Kopfschütteln. »Nein. Wir müssen weitersehen. Listen
mit den Überlebenden machen. Und den Opfern. Die Angehörigen wollen doch
wissen, was passiert ist.«
    John holte tief Luft, um

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