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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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erkannte seinen eigenen Seesack, ohne dass er danach gesucht
hätte: Er lag seitlich in der Sonne. Ohne sich wirklich dessen bewusst zu sein,
was er tun wollte, ging John hin und nahm probeweise den Griff des Seesacks. Er
war schwer, vollgesogen mit Wasser und Dreck. Wahrscheinlich war nichts im
Innern noch zu gebrauchen. Einer Eingebung folgend wühlte John mit seiner
unverletzten Hand in dem Sack, bis er einen aufgeweichten Papierbeutel fand. Er
nahm ihn heraus, sah ihn lange an. Noch einmal spürte er, wie ihm Tränen in die
Augen stiegen. Dann nahm er die Gewürze heraus, die er in Singapur für Inge
gekauft hatte. Sie waren zu einer undefinierbaren Masse verklebt, die John mit
einer einzigen Handbewegung in den Whangaehu warf. »Frohe Weihnachten, Inge«,
flüsterte er dabei. Immerhin war heute der 24. Dezember.
    Dann drehte er sich um und kletterte durch den Wald nach oben. Die
Helfer hatten von der Straße einen breiten Pfad gebahnt, und keiner hielt ihn zurück.
Oben angekommen stellte er sich an den Straßenrand und winkte den
vorbeifahrenden Autos. Schon der erste Fahrer hielt, fuhr an die Seite und
fragte besorgt: »Wie kann ich Ihnen helfen, Sir?«
    John öffnete ohne Umschweife die Tür und ließ sich auf den
Beifahrersitz fallen. »Bringen Sie mich nur weg von diesem Ort!«
    Â»Ich fahre in Richtung Auckland. Ist das in Ordnung?«, meinte der
Mann. Um dann nach einem weiteren Blick auf Johns Aussehen nachzufragen: »Sie
sind sich sicher, dass ich Sie nicht in ein Krankenhaus bringen soll?«
    John nickte. »Ganz sicher.« Er deutete auf die Unglücksstelle, die
von der Straße aus gut einzusehen war. »Wie heißt der Ort hier überhaupt?«
    Â»Tangiwai. Einen Namen, den man wohl nicht mehr vergessen wird«,
meinte der Mann, während er langsam anfuhr. »Im Radio haben sie von über
hundertdreißig Toten gesprochen. Bis jetzt haben sie wohl nur zwanzig
Überlebende gefunden.« Er sah neugierig zur Seite. »Waren Sie etwa in diesem
Zug?«
    Â»Ja«, nickte John. »Und ich möchte diesen Tag so schnell wie möglich
vergessen!«

CHRISTCHURCH, 1998

    9.
    Das Telefon schrillte
durch das stille Haus. Brandon und Sina zuckten zusammen. Ava hatte den ganzen
Abend geweint, erst vor einer halben Stunde hatte sie endlich der Schlaf
übermannt. Jetzt schlief sie, die Hände fest in ihren Kuschelhasen gekrallt.
Brandon fluchte leise. »Hoffentlich wacht sie nicht auf!« Dabei sprang er, so
schnell es ging, von der Couch und griff nach dem Hörer.
    Â»Hallo?«
    Â»Ich bin’s, Katharina«, meldete sich die vertraute Stimme am anderen
Ende. »Ich wollte mal hören, wie es euch geht. Und vor allem der Kleinen.«
    Brandon seufzte. »Nicht gut. Sie baut jetzt jeden Tag ab, jammert,
ist müde, hat Kopfweh und schimpft über den Gips an ihrem Arm. Das Schlimmste
ist: Auch Ewan oder mein Großvater kommen als Spender nicht infrage. Es ist wie
verhext, die internationale Datenbank hat auch nichts ergeben. Wir lassen jetzt
noch Hakopa und seine Familie testen. Aber wahrscheinlich ist die Verwandtschaft
zu entfernt.«
    Â»Weiß Ewan davon?«, fragte Katharina nach. Soviel sie wusste, hatte
Brandons Vater immer noch keine Ahnung davon, dass er der Sohn einer Maori und
das Ergebnis einer Vergewaltigung war.
    Â»Nein, das war ja auch nicht nötig«, meinte Brandon. »Mein Vater
weiß nichts von diesem letzten Versuch. Er setzt seine ganze Hoffnung auf die
Verwandtschaft meiner Mutter. Da gibt es aber nur die alleinstehende Schwester
– also auch nicht so viele Chancen. Wie geht es denn mit deiner Suche nach
John?«
    Â»Schwierig.« Katharina seufzte. »Gibt es denn nicht einen einzigen
Anhaltspunkt? Hat dein Vater ihn wirklich nie mehr gesehen oder irgendwie
Kontakt aufgenommen? Was ist mit diesem geheimnisvollen Container mit all
seinen Dingen, der angeblich existiert? Hast du den je gesehen? Was war da
drin?«
    Â»Nein, nein und nochmals nein.« Brandon schüttelte den Kopf, auch
wenn er wusste, dass das am Telefon eine völlig sinnlose Geste war. »Ich habe
nie genauer nachgefragt. Die Familienlegende besagte, dass John eines Tages
einfach verschwand und nie mehr zurückkehrte. Angeblich war er bald dem Suff
verfallen und trieb sich im Pazifikraum herum, und meine Familie lagerte seine
Sachen in einem Container ein. So wurde mir die Geschichte erzählt, und ich
habe

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