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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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wenigstens ein bisschen Kraft zu schöpfen.
Er deutete auf den Fluss, der jetzt friedlich und harmlos wirkte. »Was ist
überhaupt passiert? Wie konnte dieses harmlose Rinnsal zu einem so reißenden
Strom werden?«
    Â»Soweit wir das wissen, hat sich beim Ruapehu ein Lahar gebildet –
ein riesiger Vulkansee. Nach einem kräftigen Regen oben in den Bergen hat die
Wand des Lahars wohl einfach nachgegeben. Der komplette Inhalt des Sees hat
sich mit einem Mal in das Flussbett ergossen. Manche meinen, dass diese
Flutwelle wohl an die sechs Meter hoch gewesen sein muss. Sie hat die Eisenbahnbrücke
nur Minuten vor dem Zug erreicht und die Pfeiler umgerissen. Mr. Ellis wollte
mit seinem Auto über die Straßenbrücke und hat gesehen, was passiert ist. Er
hat auch die Lampen von dem Zug gesehen, der näher kam. Er ist mit einer
Taschenlampe auf den Zug zugerannt und hat versucht, den Lokführer zu warnen.
Er behauptet, der Lokführer hätte ihn gesehen – er hätte nämlich die Bremsen
gehört. Aber das war wohl etwa zwei- oder dreihundert Meter vor dem Abgrund –
so schnell kann kein Zug bremsen. Wenn das überhaupt die Wahrheit ist …«
    John nickte nur. »Doch. Ich bin aufgewacht von dem Kreischen der
Bremsen. Es war ohrenbetäubend. Der Lokführer hat wirklich alles versucht, um
uns noch zum Halten zu bringen.« Er ließ seinen Blick über das Flussbett
schweifen, das immer noch ein Bild der Verwüstung bot. »Er muss als Erster
heruntergestürzt sein. Haben Sie ihn …« Seine Stimme versagte.
    Die Frau nickte. »Ja. Er ist wohl noch in den ersten Wagen gerannt,
als klar wurde, dass er dem Sturz nicht entgehen konnte. Brachte ihm aber nicht
mehr viel – im ersten Abteil haben wir keinen Überlebenden gefunden.«
    John sah wieder herunter auf Inge und strich ihr geistesabwesend
über die Stirn. »Wir waren im letzten Waggon vor der ersten Klasse«, erzählte
er, ohne dass die Frau ihn danach gefragt hätte.
    Sie nickte. »Aus dem Wagen haben wir recht viele Überlebende
gefunden. Ein Mann hat im Inneren wohl einigen seiner Mitreisenden geholfen,
noch ins Freie zu kommen.«
    John nickte nur. Es mochte ja sein, dass er einige Menschen gerettet
hatte. Aber nicht die eine, auf die es ihm am meisten ankam.
    Â»Sir? Wir sollten jetzt wirklich …« Ihre Stimme hatte etwas
Drängendes. Widerstrebend stand er auf und nahm Inge in seine Arme. Sie, die
ihm so lebendig und leicht vorgekommen war, hing jetzt wie eine zentnerschwere
Last an ihm. Mühsam ging er in Richtung des Sammelplatzes. Die Frau begleitete
ihn schweigend. Was gab es in so einem Moment schon zu sagen?
    Auf einem flachen Stück Wiese hatten Helfer ein provisorisches Zelt
aufgeschlagen, in dem die Opfer des Unglücks gesammelt wurden. John kam sich
wie ein Verräter vor, als er Inge in ihrem zerrissenen Sommerkleidchen auf die
grobe Wolldecke legte, die dort bereitlag. Zärtlich strich er ihr noch einmal
über die Stirn, bevor ein Helfer die Decke über ihr Gesicht zog. Es kam ihm
vor, als ob ihr Tod erst mit dieser Geste Wirklichkeit geworden wäre.
    Der Helfer zückte Block und Stift. »Wie hieß diese Frau?«
    Sein Stift schwankte ein wenig und blieb kurz über dem Papier
hängen. Er sah John aufmerksam an. »Sir? Den Namen?«
    John schüttelte ein wenig den Kopf. Er wollte nicht auch noch das
letzte bisschen Privatheit preisgeben, das Inge hatte. »Es war nur eine Deutsche,
die hier ein bisschen Glück suchte. Die wird keiner vermissen«, erklärte er
schließlich. Langsam drehte er sich um und verließ das stickige Zelt, in dem
sich die Hitze des späten Nachmittags staute. Nicht mehr lange, und die Fliegen
und der Gestank würden unerträglich sein.
    Der junge Mann sah ihm hinterher, dachte einen Moment nach und
kritzelte dann »unbekannte Deutsche« auf seinen Zettel, bevor er sich dem nächsten
Opfer zuwandte. Er hatte zu viel zu tun, als dass er sich lange um ein
einzelnes Opfer hätte kümmern können.
    Vor dem Zelt sah John sich noch einmal um. Die Helfer durchkämmten
immer noch die Uferböschungen, im Whangaehu hatten sich die zerschmetterten Waggons
nicht bewegt. Nicht weit entfernt hatten Helfer Koffer, Taschen und Säcke
aufgestapelt. Das Hab und Gut von über hundert Toten – wahrscheinlich würde man
irgendwann die ganzen Sachen verbrennen.
    John

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