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Der Gesang der Maori

Der Gesang der Maori

Titel: Der Gesang der Maori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Temple
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Platz, um sich ein bisschen auszuruhen. In Wirklichkeit wollte sie sich
nur ein wenig die Zeit vertreiben, um dann in ein paar Tagen Matiu wieder zu
treffen. In Matamata würde ihre Reportage endlich ein bisschen farbiger werden
– und heimlich musste sie sich eingestehen, dass sie sich auch auf die
Gesellschaft des Halbmaori freute.
    Einen winzigen Moment lang sah sie eine Plakette an einer Hauswand.
»Hier starb Sharon!«, stand da. Ob das wohl eine Straßenschlägerei war, die
noch nicht so lange her war? Katharina konnte sich nicht erinnern, etwas
darüber gelesen zu haben. Dabei waren Rassenunruhen schon lange kein Thema mehr
in diesem Inselstaat. Vielleicht sollte sie später einmal in ihrem Reiseführer
dazu etwas nachlesen. Schon einen Moment später nahm die Schnitzerei eines
Maori ihre Aufmerksamkeit gefangen. Was konnte das nur sein? Neugierig trat sie
näher …

AUCKLAND, JANUAR 1954

    10.
    Er hätte doch die
Handschuhe annehmen sollen. Als der Vorarbeiter vor einer Stunde die alten, stinkenden
Dinger unter Johns Nase gehalten hatte, hatte er nur angewidert abgewunken.
Jetzt bereute er die hochmütige Geste, während er die hundertste aus
unbehandeltem Holz gefertigte Kiste auf eine Palette stapelte. Die abstehenden
Splitter und Spreißel bohrten sich tief in seine Hand, während er die
Obstkisten ordentlich für den Transport vorbereitete. Allmählich sahen seine
Hände aus wie die eines Arbeiters. Was er ja eigentlich auch war. Erst vier
Wochen war es her, dass er in Auckland wieder angekommen war. Es erschien ihm
allerdings merkwürdig unpassend, dass die Stadt immer noch festlich geschmückt
war. Das fröhliche Treiben anlässlich des Besuches der Königin hatte nur einen
kurzen Augenblick innegehalten, um der Opfer von Tangiwai zu gedenken; die
Königin hatte eine bewegende Rede gehalten – dann hatte man einfach weitergefeiert.
Wenigstens fiel John niemandem auf, wenn er in den Kneipen schweigend in der
dunkelsten Ecke saß und in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Bier
herunterkippte.
    Tagsüber ließ er sich im Hafen und
an den Werften für wenig Geld zu kleinen Hilfsarbeiten anstellen. Es war ihm
egal, was es zu tun gab, er wollte nur genügend Geld zusammenbringen, um seinen
allabendlichen Kneipenbesuch zu finanzieren.
    Heute waren es Lammhälften, morgen konnte es Butter, Obst oder Wolle
sein – alles wanderte in die unersättlichen Schiffsbäuche und sicherte den
Wohlstand Neuseelands. John interessierte sich eigentlich nicht für die Ware.
Wenn ihm die Muskeln oder – wie jetzt – die zerschundenen Hände schmerzten,
dann kam ihm das alles nur wie eine gerechte Strafe für sein Überleben in
Tangiwai vor. So las er nicht einmal die Zeitungen, die immer wieder von einem
geheimnisvollen Mann schrieben, der in dieser schrecklichen Nacht so viele Reisende
aus einem Waggon gerettet hatte. »Ohne ihn wäre ich jämmerlich ertrunken!«,
erklärte eine ältere Dame jedem Reporter, der ihre Geschichte hören wollte.
Anfangs wurde intensiv nach dem Namen des Retters gefahndet, irgendwann waren
sich alle sicher, dass er bei seinem letzten Rettungsversuch selbst ums Leben
gekommen sein musste. Auch wenn John von diesen Nachforschungen erfahren hätte:
Er hätte sich auf keinen Fall gemeldet. Die völlig nutzlose Suche in dem
dunklen, mit Wasser vollgelaufenen Waggon wollte er vergessen. Viel zu oft
wachte er nachts auf und schnappte nach Luft, weil er schon wieder von dem
kalten Wasser und der Suche nach einem Ausgang geträumt hatte.
    Auch andere Dinge nahm er nicht mehr wahr: Er merkte gar nicht, dass
er an einem besonders strahlenden Sommermorgen Lammhälften auf die Paletten
stapelte. Der Himmel spannte sich weit und wolkenlos dunkelblau über ihm, die
wenigen Bäume am Hafen wiegten sich in der leichten Meeresbrise, die allen
Arbeitern eine willkommene Abkühlung brachte. John arbeitete mit gesenktem
Blick. Er wollte mit niemandem reden, und er schaffte es auch, dass keiner der
anderen Hilfsarbeiter auch nur das geringste Verlangen danach verspürte, mit
ihm ein Wort zu wechseln. Dem Vorarbeiter war der schweigsame junge Mann gerade
recht: Der ließ sich nicht ablenken, arbeitete schnell und zuverlässig und
hatte offensichtlich nichts außer seiner Arbeit im Sinn.
    Er hatte keine Ahnung, was wirklich im Kopf seines Arbeiters
vorging. John war in seinem

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