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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Leid.«
    Â»Mir auch«, sagte er und es klang aufrichtig. »Ich mochte sie wirklich gern. Sie war 90 Jahre alt, als sie starb. Ich glaube, damit war sie zufrieden.«
    Â»Meine ist auch schon 75, aber zufrieden ist sie kein bisschen. Am liebsten würde sie von ihrem Bett aus die Welt regieren. Damit macht sie alle verrückt, die sich um sie kümmern müssen. Als Kind hatte ich immer ein bisschen Angst vor ihr.«
    Â»Hunde, die bellen, beißen nicht«, meinte Javid daraufhin. Und ich konnte nicht verhindern, dass ich meine Großmutter vor mir sah, wie sie im Bett saß und bellte.
    Wir kamen in eine kleine Siedlung an der Mündung des Waatch River, die den Namen des Flusses trug. Die pastellfarbenen Einheitshäuser glichen denen in Neah Bay auf der anderen Seite des Kaps. Ich war enttäuscht, denn auch vom Strand hatte ich mehr erwartet. Zwar konnte man von hier aus aufs offene Meer hinaussehen, aber das war auch schon alles, worin er sich vom Strand in Neah Bay unterschied.
    Javid war ein aufmerksamer Beobachter und mein enttäuschter Blick entging ihm nicht. »Keine Angst«, sagte er. »Ich bringe dich gleich an einen Strand, der dir gefallen wird. Aber vorher möchte ich dir noch etwas zeigen.«
    Er parkte den Pick-up neben einem großen Holzschuppen am Rande der Siedlung, ein ganzes Stück abseits der Häuser. Auf den von Wind und Wetter ausgeblichenen Brettern des Schuppens entdeckte ich drei aufgemalte stilisierte Tiere in den beiden Hauptfarben der Nordwestküstenindianer: Rot und Schwarz.
    Javids Augen folgten meinem Blick. »Das sind Donnervogel, Wolf und Wal, die drei mächtigsten Tiere unserer Mythologie«, erklärte er.
    Â»Donnervogel?«, fragte ich, denn von Wolf und Wal hatte er mir schon erzählt.
    Â»Ja, der Donnervogel war der erste Waljäger, schon vor der Zeit. Die Alten sagen, er war ein riesiger Vogel. So groß,dass sein Flügelschlag Donner und Sturm hervorbrachte, und mit dem Schließen und Öffnen seiner Augen machte er Blitze. Er lebte in einer großen Höhle in den Olympic Mountains.« Javid deutete mit seiner Rechten ins Landesinnere. »Eines Tages tauchte ein Killerwal an der Küste auf und tötete andere Wale, die den Menschen das lebenswichtige Öl und Walfleisch gaben. Die Leute hungerten und wussten nicht, was sie tun sollten. Also verließ der Donnervogel seine dunkle Höhle in den Bergen und flog zum Meer. Dort schwebte er über dem Wasser, balancierte in den Lüften und wartete darauf, dass der Orca an die Wasseroberfläche kam, um zu atmen. Als er es schließlich tat, stieß Donnervogel herab wie der Blitz, hieb seine messerscharfen Krallen in den Rücken des Wals, packte ihn und erhob sich mit ihm in die Lüfte.«
    Javid zeigte auf den Donnervogel an der Wand, dessen Krallen deutlich zu sehen waren. »Sie kämpften dreimal«, fuhr er fort. »Einmal in der Luft, ein zweites Mal, als Donnervogel mit seiner schweren Last auf einem Seefelsen rasten musste, um seine Flügel auszuruhen, und ein drittes und letztes Mal in den Bergen, im Nest des Donnervogels. Dreimal bebte die Erde und aus dem Meer stiegen riesige Wellen. Aber der große Vogel besiegte das mächtige Raubtier des Ozeans. Er war der erste Waljäger.«
    Javid löste das Vorhängeschloss vor der Schuppentür und machte eine einladende Kopfbewegung. »Komm, ich will dir was zeigen.«
    Neugierig folgte ich ihm in den Schuppen. Ein leiser Schauer rann über meinen Rücken, als ich den Raum betrat. Drinnen war es dämmrig und roch nach Lack und frischem Holz. Es war ganz still und doch hatte ich ein seltsames Gefühl von Anwesenheit. Als ob noch jemand anderes im Schuppen war außer Javid und mir. Aber natürlich war da niemand. Auch dann nicht, als Javid an einer Schnur zog und das Licht von zwei nackten Glühbirnen den Raum erhellte.
    In der Mitte des Schuppens lagerte auf drei Holzböcken ein unfertiges Kanu aus hellem Holz. Ich ging näher an das Boot heran, um es genauer betrachten zu können.
    Es war ungefähr fünf Meter lang und schmal gebaut.Der v-förmige Bug zeigte spitz zulaufend nach oben, während das Heck niedrig gehalten war. In seinem Inneren leuchtete das Holz in einem warmen Orangerot. Jemand musste es mit irgendetwas Öligem gestrichen haben, jedenfalls roch es so. Das Kanu hatte vier schmale Ruderbänke, die in den Seitenwänden verankert

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