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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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ernstem Gesicht fort. »Es kann nach vorne und nach hinten sehen. Es kann sich verwandeln und es ist immer auf der Suche.«
    Â»Auf der Suche nach wem?«
    Javid blieb auf einem Stamm stehen, der gefährlich wippte. »Nach denen, die ihre Angst nicht beherrschen können.« Er musterte mich kurz. »Aber es ist keine Schande, Angst zu haben, Copper. Man muss ihr nur ins Gesicht sehen können. Man muss dem Ungeheuer ins Gesicht sehen können.«
    Javid zog an meiner Hand. »Steig besser über diesen Stamm, er ist locker. Dabei haben sich schon viele unvorsichtige Touristen die Knochen gebrochen«, warnte er mich. »Du musst sehr aufpassen.«
    Das tat ich. Die mächtigen, aufgetürmten Stämme machten mir keine Angst, wenn nur das zweigesichtige Ungeheuer blieb, wo es angeblich war: im Meer. Auf seine Art hatte Javid es schließlich doch geschafft, mir vor seinem Märchenwesen Furcht einzujagen. Schließlich hatten wir die breite Treibholzbarriere überklettert und standen direkt am Pazifik. Die Mittagssonne stach vom Himmel und das helle Licht blendete mich. Wasser überspülte den Strand. Überall hatten Ebbe und Flut Holzstücke und Berge aus Seetang zurückgelassen. Auf der Gezeitenlinie glänzten glatt geschliffene Steine, Krabbenpanzer und leere Muschelschalen in der schaumigen Gischt. Es roch jetzt noch stärker nach Fisch und Muscheln. Als ich mir über die Lippen leckte, schmeckten sie salzig.
    Ich blickte mich um. Rechts von uns krümmte sich der weite, sandige Bogen des Sooes Beach. Links ragten zerklüftete Felsen aus dem Meer, die wie Buckel merkwürdiger Urtiere anmuteten. Vereinzelte, sturmzerzauste Nadelbäume krallten sich darauf fest.
    Das Ungeheuer Sisiutl ging mir nicht aus dem Sinn und ich dachte, dass vermutlich auch diese Felsen versucht hatten vor ihm zu fliehen. Jedenfalls sahen sie so aus.
    Â»Ist dieser Ort okay?«, fragte Javid.
    Ich nickte, noch ganz überwältigt vom Anblick, der sich mir in jeder Richtung bot. »Ich weiß gar nicht, was ich zuerst malen soll«, sagte ich. »Den Strand und das Meer, die Felsen oder die Treibholzstämme.« So viele Möglichkeiten.
    Javid lachte. »Lass dir Zeit, niemand drängt dich.«
    Â»Hast du nicht Besseres vor, als hier auf mich zu warten?«, fragte ich skeptisch. Ich wollte ihm nur ja nicht zur Last fallen.
    Â»Ich will versuchen ein paar Fische zu fangen«, erwiderte er. »Kümmere dich gar nicht um mich.«
    Â»Badet hier niemand?« Ich wunderte mich darüber, dass wir ganz allein am Strand waren.
    Javid schüttelte den Kopf. »Nur hin und wieder ein paar Verrückte. Das Wasser ist zu kalt und die Strömung zu gefährlich.«
    Ich wählte einen silberweißen Stamm, der so dick war, dass ich meine Farben bequem darauf ausbreiten konnte. Das steife Aquarellpapier hatte ich mit Klammern auf einer harten Pappe festgeklemmt, die mir als Unterlage diente. In meinem Plastikbecher holte ich Wasser aus dem Meer, um darin die Pinsel ausspülen zu können.
    Ich setzte mich und fing einfach an. Da gab es kein Nachdenken mehr, kein Überlegen. Der Pinsel übertrug meine Gefühle, meine Gedanken. Ganz von allein fand er die richtige Mischung auf der Palette und zauberte in kräftigen Strichen und weichen Tönen auf das Papier, was meine Augen sahen, und auch, was sie nicht sahen. Ich verschwand in einer Welt aus Farben und war auf einmal von einem beschwingten Gefühl der Leichtigkeit erfüllt. So entstand ein Bild vom gischtglimmernden Meer, durchbrochen von Felsenbuckeln, die wie Geister aus der unergründlichen Tiefe anmuteten.
    Javid, der mit einer langen Angelschnur an der Brandung stand, nahm ich kaum noch wahr. Irgendwann saß er jedoch wieder neben mir und beobachtete wortlos, was ich tat. Sonst mochte ich es nicht, wenn mir jemand beim Malen zusah. Aber Javid störte mich nicht und ich arbeitete weiter.
    Nach einer Weile warf ich ihm einen Seitenblick zu und merkte, dass er mich gar nicht mehr beim Malen beobachtete, sondern ganz versunken auf das Meer hinaussah. Zu seinen Füßen lagen zwei große tote Fische mit silbernen Schuppen und aufgesperrten Mäulern. Ihre stumpfen Augen starrten mich an.
    Â»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Aber wenn ich male, vergesse ich alles um mich herum.«
    Javid wandte mir sein Gesicht zu und ich hatte den Eindruck, als kehre auch er aus einer anderen Welt

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