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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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waren. Vorsichtig ließ ich meine Hände über die polierte Außenseite gleiten und konnte die Wärme und Lebendigkeit des Holzes spüren.
    Â»Es ist wunderschön«, brachte ich heraus.
    Javids Stimme klang anders als sonst, als er sagte: »Mein Vater fing an dieses Boot zu bauen, nachdem er in einem großen Kanu den Wal gejagt hatte. Er sagte zu mir: Ein richtiger Walfänger braucht ein eigenes Kanu.« Einen Moment lang schwieg Javid, bevor er fortfuhr. »Dad hat es aus einem einzigen uralten Zedernstamm gehauen, nur an Bug und Heck wurde etwas angesetzt.« Er deutete auf die Ansatzstellen und ich nickte beeindruckt. Ich konnte sie erkennen, aber nur weil er mich darauf hingewiesen hatte.
    Â»Mein Dad hat den Stamm behauen und mit heißen Steinen und Wasserdampf in die richtige Form gebracht«, erzählte Javid weiter. »Genauso, wie unsere Vorfahren es getan haben. Dieses Kanu war sein Traum, aber er konnte es nicht vollenden. Vor zwei Jahren ist er beim Fischen draußen auf dem Meer ertrunken.«
    Ich schwieg, den Blick zu Boden gerichtet.
    Javid räusperte sich, es fiel ihm sichtlich schwer, weiter darüber zu sprechen. Aber dann gab er sich einen Ruck. »Andere Fischer fanden ihn in seinem eigenen Netz. Er hatte sich mit dem Fuß darin verfangen und ist über Bord gezogen worden.«
    Er sagte das mit einer seltsamen Verbitterung,als ob er sich dafür schämte, auf welche Weise sein Vater gestorben war. Ich wusste nicht, wo ich hinsehen sollte, weil ich Javids Schmerz spürte, als wäre es mein eigener. »Das ist furchtbar«, sagte ich schließlich und schaute in sein Gesicht, das kaum etwas davon preisgab, was er fühlte oder sich erhoffte.
    Â»Ja, das war es.« Er holte tief Luft. »Meine Mutter und ich, wir wussten erst nicht, wie es weitergehen sollte. Vater hat uns mit seinem Boot ernährt. Ich dachte daran, die Schule abzubrechen und Fischer zu werden, wie er.« Javid blickte zu Boden und scharrte mit der Schuhspitze über die festgetretene Erde. »Er hätte sich das gewünscht, aber meine Mutter hat es nicht zugelassen. Ich sollte weiter zur Schule gehen. Und ich musste ihr versprechen nicht zu ertrinken.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Sie hat das Boot meines Vaters verkauft und mit dem Geld das alte Motel erworben. Seitdem schuftet sie, um uns zu ernähren und was aus der alten Bude zu machen.«
    Â»Das gelingt ihr ganz toll«, sagte ich. »Ihr werdet bestimmt immer Gäste haben.«
    Javid lachte bitter auf. »Du siehst doch, wie viele Gäste wir haben, Copper. Und dabei ist Sommer. Im Winter, wenn die irren Stürme über das Meer jagen und es hier nicht nur nass, sondern auch noch so richtig kalt ist, verirrt sich niemand mehr nach Neah Bay. Außer vielleicht ein paar Verrückte.«
    Â»Deine Mutter hat immer gute Laune und ist so freundlich«, bemerkte ich.
    Â»Ja, das muss sie auch sein. Aber manchmal, da weint sie und ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Ich fühle mich für sie verantwortlich, seit mein Vater nicht mehr da ist.«
    Â»Vermisst du ihn sehr?«, fragte ich vorsichtig. Vielleicht hatte ich endlich jemanden gefunden, mit dem ich über meinen eigenen, schrecklichen Verlust reden konnte. Jemanden, der mich verstehen würde, weil er einen ähnlichen Verlust erlitten hatte.
    Javid nickte und lief um das Kanu herum. »Natürlich vermisse ich ihn. Er war ein guter Fischer und ein guter Walfänger. Er war auch ein guter Vater. Ich habe dieses Kanu fertig gebaut, für ihn. Ich habe es innen mit Fischöl eingefärbt und außen am Boden geschwärzt und poliert, damit es lautlos durch die Wellen gleiten kann.« Er machte eine gerade Bewegung mit der Hand nach vorne. »Zu unserem Fest im August werden zum ersten Mal wieder Kanus am Strand von Neah Bay anlegen. Indianer einiger verwandter Stämme werden mit ihren selbst gebauten Kanus von der kanadischen Küste herunterkommen und mit uns feiern wie in alten Zeiten. Danach werden sie weiter bis nach Oregon paddeln und ich möchte dabei sein. Ich habe es meinem Vater an seinem Grab versprochen. Ich möchte mit unserem Kanu dabei sein.«
    Javids Stimme zitterte. In diesem Augenblick bekam ich eine Ahnung von seiner Verwundbarkeit, die er sonst gut verbergen konnte. Mir saß ein dicker Kloß im Hals. »Das Kanu ist fertig«, sagte ich nach einer Weile. »Und es sieht

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