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Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
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Zeder, Meer und Fisch. In der Mitte des Hauses flackerte ein künstliches Feuer. Ich setzte mich auf eine Bank an der Wand und ließ meinen Blick durch den dunklen Raum gleiten. Auf den Fotos und in den Vitrinen hatte ich genug gesehen, um eine gewisse Vorstellungskraft davon zu haben, wie die Makah vor hundert Jahren noch gelebt hatten. Ich versank vollkommen in einer anderen Welt und erwachte erst wieder, als die Familie mit den vielen Kindern das Zedernhaus betrat und der Radau mich weckte.
    Draußen empfing mich die Sonne. Nach dem langen Aufenthalt im Dämmerlicht der alten Makah-Welt schloss ich einen Augenblick die Augen. Nur langsam gewöhnten sie sich wieder an das helle Licht des Tages.
    Ich setzte mich auf eine Holzbank, die im Schatten einiger Sträucher stand, holte meine Farben und den Zeichenblock hervor und begann zu malen. Pinselwasser hatte ich diesmal in einer Trinkflasche bei mir und ich bannte die grün-weiß-rot bemalten Totempfähle mit ihren streng geometrischen Mustern aufs Papier. Dann malte ich aus dem Gedächtnis: Javids Kanu, das Meer und die Wale. Schwarz-weiße Giganten, die scheinbar mühelos aus dem Wasser sprangen, als wäre es Spiel. Die Orcas ließen mich einfach nicht los.
    Ob die Walfamilie noch vor der Küste jagte? Waren Granny, Bob, Lopo, Conny und die dicke Mora noch da? Wie gerne würde ich noch einmal in ihrer Nähe sein, um ihnen beim Jagen oder Spielen zuzusehen. Aber Javids Onkel fuhr nur hinaus, wenn er mindestens vier Leute in seinem Boot hatte. Fredas neue Motelgäste, die gestern Abend gekommen waren, hatte ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vermutlich war es aussichtslos, noch einmal drei Leute zu finden, die 50 Dollar für einen Bootsausflug bezahlen würden. Ich hätte Javid fragen können, aber ich wollte ihm keinesfalls damit auf die Nerven gehen.
    Die Zeit verging schnell. Am frühen Nachmittag packte ich meine Sachen zusammen, verließ das Museumsgelände und lief zurück in den Ort. Im Supermarkt aß ich mit gutem Appetit einen Becher Muschelsuppe und kaufte Äpfel.
    Auf dem Weg zum Motel hupte es plötzlich laut hinter mir. Erschrocken machte ich einen Satz zur Seite, die Maltasche an mich gepresst. Es war ein großes orangefarbenes Müllauto mit einem angeschmuddelten überdimensionalen Plüschteddy auf der Kühlerhaube. Hinten auf dem Tritt stand Javid. Er winkte, als er mich sah. Er trug Arbeitshandschuhe und eine rote Latzhose und sein Haar war grau vor Staub.
    Das Müllauto hielt am Straßenrand. Javid sprang herunter und klemmte die Mülltonne in die Vorrichtung. Dann drückte er auf einen Knopf, die Tonne schwang nach oben und leerte sich automatisch.
    Ich war jetzt bei ihm angelangt. Mit dem Arm strich er sich eine staubige Haarsträhne aus der Stirn und sagte: »Ich bin in einer halben Stunde fertig. Zieh schon mal Badesachen an und warte auf mich.« Dann sprang er wieder auf und das Auto rollte davon.
    War das gerade eine Verabredung gewesen? Vermutlich. Es war eine Verabredung auf Makah-Art. Ein vages Wann und kein Wo. Trotzdem würde es funktionieren, da war ich mir sicher. Ich lief nicht, ich hüpfte nach Hause wie ein kleines Schulmädchen.
    In meinem Zimmer zog ich das Kleid aus, um den Badeanzug anzuziehen. Ein Blick in den Spiegel machte bewusst, wie mager ich war. Von weiblichen Rundungen konnte keine Rede sein. Ich hatte spitze Hüften und Schultern. Die Knie sahen aus wie Knoten in einem Strick, weil meine Beine so dünn waren. Arme und Gesicht hatten schon ein bisschen Bräune abbekommen. Dafür war der Rest meines Körpers schrecklich weiß und meine Brüste wirkten dadurch noch winziger.
    Wie würde Javid darauf reagieren, wenn er mich erst im Badeanzug sah? Spindeldürr. Noch konnte ich kneifen, aber das wollte ich nicht. Das hatte ich noch nie getan. Ich freute mich so darauf, mit ihm schwimmen zu gehen. Und wenn er mich wirklich mochte, dann würde er auch meinen Körper mögen, so, wie er nun mal war.
    Ich zog die Träger des Badeanzugs nach oben und mein Kleid wieder drüber. Dann setzte ich mich mit meinem Walkman in einen der Gartenstühle auf der Wiese und wartete auf Javid. Als er endlich kam, sah er ziemlich geschafft aus.
    Â»Was hörst du?«, fragte er laut.
    Ich nahm die Kopfhörer ab. »Beethoven.«
    Â»Oh.« Verwirrt sah er mich an.
    Â»Schon mal was von ihm

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