Der Gesang der Orcas
gehört?«
»Tatata â ta«, tönte aus seinem Mund das Anfangsmotiv von Beethovens Schicksalssymphonie.
Ich musste lachen.
»Was gibt es da zu lachen?«, fragte er verunsichert.
Ich hob die Schultern. »Ich hab einfach nicht damit gerechnet, dass du weiÃt, wer Beethoven ist.«
»Musikunterricht siebte Klasse«, erwiderte er lakonisch. »So pocht das Schicksal an die Pforte,soll der Komponist gesagt haben.«
»Stimmt.«
»Bist du fertig?«, fragte er und beendete damit das Thema.
»Ja.«
Javid brauchte zehn Minuten, um sich zu duschen und umzuziehen. »Der Job ist dreckig und anstrengend«, sagte er, als er mit einer Decke und zwei Handtüchern unter dem Arm wieder aus seinem Zimmer kam. »Aber ich bekomme zehn Dollar die Stunde, das ist eine ganze Menge.«
»Und was machst du mit dem Geld?«
»Sparen«, sagte er und grinste. Javids nasses langes Haar glänzte in der Sonne. Er trug ein dunkelrotes T-Shirt mit einem stilisierten Donnervogel auf der Vorderseite und abgeschnittene, ausgewaschene Jeans. Seine Turnschuhe waren von Nike, aber schon ziemlich abgewetzt und grau. »Hast du überhaupt Lust, schwimmen zu gehen, Copper?«
Ich nickte. »Hatte ich gestern schon.«
»Dann lass uns fahren.«
»Wohin?«, fragte ich. »Mein Vater möchte immer wissen, wo ich bin.«
»Er ist doch gar nicht da.«
»Ich soll ihm einen Zettel dalassen.«
»Wir fahren an den Waatch River, das ist unser Makah-Freibad. Du hast es gestern gesehen.«
Ich eilte nach oben und nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Meinem Vater schrieb ich einen Zettel, den ich an seine Zimmertür klemmte. Dann lief ich wieder nach unten. Javid hatte die bunte Patchworkdecke und die Handtücher schon zum Auto gebracht.
Es war seltsam, neben Javid in diesem alten Kleinlaster zu sitzen, so vertraut, als wären wir ein altes Ehepaar. »Hast du überhaupt Zeit, schwimmen zu gehen?«, fragte ich ihn. »Müsstest du nicht eigentlich an deinem Kanu weiterarbeiten?«
»Ich bin noch dabei, das Muster zu entwerfen. Wenn es fertig ist, können wir loslegen. Wenn du mir hilfst, dann schaffen wir es.«
Ich fragte mich, wann er all diese Dinge machte und warum er mir seine kostbare Zeit opferte. Mir fiel es immer noch schwer,zu glauben, dass er mich wirklich gern haben könnte. Einfach so, ohne etwas dafür zu verlangen.
»Warst du im Museum?« Er sah kurz zu mir herüber.
»Ja, das war ein guter Vorschlag von dir. Ihr habt ein tolles Museum. Manchmal habe ich mich richtig in die alte Zeit versetzt gefühlt. Das war verrückt.«
»Ich glaube, die alte Zeit war auch irgendwie verrückt«, meinte er nachdenklich. »Warst du etwa den ganzen Vormittag dort?«
»Danach habe ich noch ein bisschen gemalt.«
»Waren viele Leute da?«
»Ja«, antwortete ich. »Einige.«
»Das Wetter ist schön zur Zeit«, war Javids Erklärung. »Da kommen sie auch von weiter her.« Er schwieg einen Moment und sagte dann: »Eins will mir nicht in den Kopf. Manche Leute kommen für einen Tag nach Neah Bay und denken, sie hätten alles gesehen. Später, wenn sie dann wieder in ihren komfortablen Wohnzimmern sitzen, bei einem Glas Wein mit ihren Freunden, dann brüsten sie sich damit, in einem richtigen Indianerreservat gewesen zu sein. Sie bilden sich ein zu wissen, wie das läuft mit uns Ureinwohnern.«
»Kann schon sein«, sagte ich. »Aber die Leute im Museum sahen alle ziemlich interessiert aus.«
»Vielleicht. Aber das ändert nichts.«
»WeiÃt du, was ich seltsam finde?«, sagte ich daraufhin. »Wenn ich durch Neah Bay laufe, habe ich das Gefühl, als hätte ich eine Tarnkappe auf. Alle sehen durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Kannst du mir das erklären?«
»Das ist Makah-Art, mit Fremden umzugehen«, antwortete Javid. »Die Leute wirken deshalb so abweisend, weil sie die Privatsphäre anderer sehr ernst nehmen. Ich bin sicher, dass sie dich sehen. Du bist Kupferfrau, hast du das schon wieder vergessen? Dass du einfach so durch den Ort spazierst, ist ihnen unheimlich und deshalb schauen sie weg, als ob du gar nicht da wärst.«
»Bin ich dir auch unheimlich?«, wollte ich wissen.
Ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Nur ein bisschen, Copper.«
12. Kapitel
J avid parkte den Pick-up an einem Seitenweg
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