Der Gesang der Orcas
genommen. Vielleicht vergisst er sein Versprechen, sich um die Paddel zu kümmern, ja auch.«
Auch am nächsten Morgen schlüpfte ich wieder in den beklecksten Kittel und fuhr mit Javid in die Siedlung Waatch. Das Kanu schien schon auf uns zu warten. Javid begrüÃte es jedes Mal, wenn er den Schuppen betrat. Als wäre es ein lebendiges Wesen.
Wir arbeiteten an der Bemalung und ich merkte, dass Javid immer nervöser wurde, je weiter der Vormittag voranschritt. Wenn er ein Motorengeräusch hörte, unterbrach er seine Arbeit und lauschte. Zweimal fragte er mich nach der Zeit, was er sonst nie getan hatte.
»Er wird schon noch kommen«, sagte ich, obwohl ich froh darüber war, dass Tyler McCarthy nicht kam.
»Du kennst Tyler nicht«, brummte Javid. »Auf ihn ist einfach kein Verlass.«
»Aber du magst ihn trotzdem.«
»Was heiÃt trotzdem?«, brauste Javid auf. »Natürlich mag ich ihn, er ist mein bester Freund. Klar hat er seine Fehler, aber die haben wir doch alle, oder?«
Erschrocken über seinen plötzlichen Unmut, zuckte ich zusammen. Ich suchte nach den richtigen Worten, um nicht wieder ins Fettnäpfchen zu treten, aber Javid redete schon weiter. »Tyler hat es nie leicht gehabt. Seine Mutter verlieà die Familie, als er fünf war, sein Vater ist ein Säufer. Die GroÃeltern haben ihn aufgezogen, aber dann ist die GroÃmutter gestorben. Er lebt mit seinem Vater und dem kranken, alten GroÃvater in diesem Haus und ich kann gut verstehen, dass er dort wegwollte. Er hat sein Ziel erreicht, aber irgendwie ist er jetzt auch nicht glücklicher.«
»Vielleicht hat er gemerkt, dass er dem, was er ist, nicht davonlaufen kann«, sagte ich.
»Vielleicht hast du Recht, Copper. Aber es gefällt mir nicht, wie er mit Alisha umgeht, schlieÃlich ist sie meine Kusine.«
»Liebt er sie denn wirklich?«
»Er liebt sie«, sagte Javid bestimmt. »Er weià nur noch nicht, dass er sie verlieren kann, wenn er so weitermacht.«
»Rede doch mal mit ihm«, schlug ich vor. »Vielleicht hört er auf dich.«
»Ich kannâs versuchen«, meinte Javid, »aber ich glaube nicht, dass ihm das gefallen wird.«
Gegen Mittag hörten wir auf zu arbeiten. Tyler war nicht gekommen und Javid hatte deshalb furchtbar schlechte Laune. Ich hatte meinem Vater versprochen ihn und Lorraine am Nachmittag zu den Sol Duc Hot Springs zu begleiten, einer natürlichen Schwefelquelle, die zu einem öffentlichen Bad mitten im Regenwald ausgebaut worden war. Also musste Javid mich zum Motel zurückfahren.
Im selben Augenblick, als er die Schuppentür abschloss, hielt Tylers Thunderbird neben dem Pick-up. Tyler stieg aus und mit freudestrahlendem Gesicht holte er zwei Hölzer von der Rückbank, die grob an Paddel erinnerten.
Javids Miene hellte sich augenblicklich auf.
»Mann, es war vielleicht kompliziert,das geeignete Holz aufzutreiben«, seufzte Tyler. »GroÃvater ist mit mir bei einer Menge Leuten gewesen, bis wir das richtige hatten. Echte Erle.«
Javid begutachtete die Hölzer, aus denen einmal Paddel werden sollten. »Sieht gut aus«, sagte er. »Ist aber noch eine Menge Arbeit.«
»Ich krieg das schon hin, mach dir da mal keine Gedanken.«
Javid schloss den Schuppen wieder auf. »Okay, drinnen sind Werkzeuge, wenn du etwas brauchst. Ich will nur Sofie nach Neah Bay fahren, dann komme ich wieder.«
»Okay, Mann. Bis dann.«
Tyler war also doch noch gekommen und Javid wirkte wie ausgewechselt. Er pfiff und sang vor sich hin und donnerte wie ein Verrückter über die StraÃe nach Neah Bay. Ich hatte wenig Lust, mit meinem Vater und Lorraine den Nachmittag in einem heiÃen Schwefelbad zu verbringen. Andererseits tat es Tyler und Javid vielleicht gut, wenn sie mal allein miteinander reden konnten.
Papa und Lorraine genossen den Nachmittag im Bad, während ich mit meinen Gedanken ständig bei Javid war. Er und Tyler kamen sich wieder näher. Das Geheimnis des Kanus teilten wir nun schon miteinander. Aber würde Javid seinem Freund auch von den Orcas und unseren Schlauchbootausflügen erzählen?
Ich hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, die Wale wieder zu sehen. Ob Bob, Granny, Lopo, Conny und Mora wohl noch da waren? Manchmal hatte ich richtig Sehnsucht nach ihnen.
Vielleicht würde das Wetter am nächsten Tag besser werden und der Ozean wieder ruhig sein.
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