Der Gesang der Orcas
erforderte Geschick mit dem Pinsel und eine Menge Zeit und Geduld.
Während Javid Mülltonnen leerte, verbrachte ich meinen Vormittag am Hafen und versuchte es noch einmal mit den Booten. Und diesmal hatte ich das Gefühl, als ob mir die Skizzen gelingen würden. Irgendwann machte es sogar richtigen SpaÃ.Wie lebendige kleine Wesen schaukelten die Boote auf meinem Zeichenpapier.
Zu Mittag aà ich gemeinsam mit meinem Vater und Lorraine im »The Cedars« und am Nachmittag fuhren die beiden nach Forks, weil Lorraine etwas über das Holzfällermuseum schreiben wollte. Javid hatte nach der Arbeit geduscht und sich umgezogen. Er trug jetzt wieder sein dunkelrotes T-Shirt mit den groÃen gummierten Buchstaben. THINK INDIAN prangte auf seiner Brust.
Als ich ihn fragte, ob Tyler heute auch wieder kommen würde, um an den Paddeln zu arbeiten, sagte er: »Tyler will heute seinen GroÃvater aus dem Krankenhaus holen. Er hat den ganzen Vormittag damit zugebracht, das Haus zu entrümpeln und zu putzen. Und ehrlich gesagt, ich habe heute auch keine Lust mehr, zu arbeiten. Meinetwegen können wir zu den Orcas rausfahren, wenn du willst. Vielleicht sind sie ja noch da und Mora hat ihr Baby bekommen.«
Ich stieà einen kleinen Jauchzer aus und umarmte ihn spontan. Javid lächelte kopfschüttelnd über meine Freude. »Manchmal denke ich, du magst die Orcas mehr als mich.«
»Das stimmt nicht«, beteuerte ich. »Aber vielleicht hat Mora wirklich schon ihr Baby! Ich würde es so gerne noch sehen, bevor ich wieder nach Deutschland muss. Ich habe noch nie ein Walbaby gesehen.«
21. Kapitel
I ch durfte wieder den Pick-up fahren, was mir inzwischen groÃen Spaà machte. Ich hatte kein Problem mehr damit, das groÃe Gefährt zu steuern. Was Papa wohl sagen würde, wenn er mich so sehen könnte? Bei dem Gedanken an sein verblüfftes Gesicht musste ich lachen.
Im Schuppen roch es stark nach Farbe. Die Bemalung am Kanu war getrocknet und schon jetzt sah es wunderschön aus. Javid konnte seinen Stolz nicht verbergen, wenn er es betrachtete. Und ich wurde jedes Mal traurig, weil ich wusste, dass ich ihn nicht wieder sehen würde, wenn er das Kanu erst bestiegen hatte und mit den anderen davongefahren war. Ich beneidete Tyler McCarthy, weil er Javid auf seiner Reise begleiten durfte.
Aber noch war das Kanu nicht fertig. Die Bemalung am Bug, der Donnervogel, fehlte vollkommen. Eine Woche blieb uns, um den Bug zu bemalen und die Paddel fertig zu stellen, an denen Tyler schnitzte. In einer Woche war es dann so weit: Die Makah-Festtage mit dem groÃen Kanutreffen in Neah Bay würden beginnen. Obwohl dieses Fest Abschied bedeutete, fieberte ich ihm mit derselben Aufregung entgegen wie Javid und Tyler. Freda, mein Vater, Lorraine und all die anderen aus dem Ort würden zum ersten Mal sehen, was Javid Schönes geschaffen hatte. Und ich hatte ihm dabei geholfen.
Wir holten das Schlauchboot aus dem Schuppen und schleppten es über den Strand zur Wasserlinie. Javid überprüfte sorgfältig, ob es auch dicht war. Das tat er jedes Mal. Dann trug er den Motor heran und füllte Benzin in den Tank. Die Sonne schien, nur ein paar einzelne Wolken waren am Himmel zu sehen. Das Meer war ruhig und ich hätte gern auf die Schwimmweste verzichtet, in der ich mich jedes Mal eingezwängt fühlte wie in einem Korsett. Aber Javid bestand darauf, dass ich sie mir umband.
»Lass dich nicht täuschen vom Meer«, sagte er. »Es kann in einem Augenblick ganz friedlich sein und im nächsten zum Ungeheuer werden und dich verschlingen.« Er lächelte. »Denk an Sisiutl.«
Ich vertraute Javid, deshalb band ich mir die Schwimmweste um. AuÃerdem gefiel es mir, wenn er sich um mich sorgte.
Als wir an diesem Nachmittag hinausfuhren, merkte ich, dass ich mit einem Mal vor vielen Dingen keine Angst mehr hatte. Vor dem Meer nicht und den Orcas, und vor Javid auch nicht. Und was immer ihn dazu bewog, mich zu mögen, ich akzeptierte es einfach und suchte nicht mehr nach einer Begründung.
Javid warf den Motor an und bald hatten wir die Brandung hinter uns gelassen. Salzkristalle legten sich auf unsere Haut, während wir nach den schwarzen Rückenflossen der Orcas Ausschau hielten. Diesmal dauerte es länger als sonst, bis wir sie fanden. Die kleine Gruppe unter Grannys Führung hatte sich an der Küste entlang ein ganzes Stück nach Süden
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