Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Gesang der Orcas

Der Gesang der Orcas

Titel: Der Gesang der Orcas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Babendererde
Vom Netzwerk:
den ganzen Dreck am Strand.«
    Sofort fielen mir die Orcas ein. Mora, die ihr Kalb nun vielleicht in einer schmierigen, stinkenden Öllache gebären musste. Der schöne Shi-Shi Beach, bedeckt von einer schwarzen Teerschicht. Verendete Fische, Vögel mit verklebtem Gefieder und abgestorbene Kelpwälder, die niemandem mehr als Nahrung oder Versteck dienen konnten.
    Ein Blick zu Javid genügte und ich wusste, dass er dieselben Gedanken hatte. Er stürzte zur Tür hinaus und blieb draußen wie angewurzelt stehen. Ich lief ihm nach. Die Welt um uns herum war verschwunden. Dichter, weißgrauer Nebel verschlang alle fernen Dinge vollkommen. Und von dem, was nahe war, konnte man nur noch schemenhafte Konturen erkennen.
    Auch der Ranger war vor die Tür getreten. »Verdammter Mist«, fluchte er. »Der Nebel hat uns gerade noch gefehlt. Das Navigationssystem des Tankers ist ausgefallen und er driftet mit 30 000 Litern Heizöl an Bord in Richtung Küste. Bei dieser Sicht kann der Hubschrauber nicht mehr fliegen, es ist zu gefährlich. Und der Schleppdampfer kann auch nicht auslaufen.«
    Er sah uns beide zerknirscht an. »Nun haben wir wirklich ein Problem.«
    Nachdem Javid das Schlauchboot begutachtet hatte, brachte er es mit Hanks Hilfe noch ein Stück in Sicherheit. Es war beschädigt, aber er hoffte, dass wenigstens der Motor nichts abbekommen hatte. Das Boot würde Javid wieder flicken können.
    Zu dritt machten wir uns auf den Weg zur Rangerstation. Hank lief voran, gefolgt von Javid, und zum Schluss kam ich. Auf dem nebeldurchzogenen Weg durch den Küstenwald ins Landesinnere fragte Javid den Parkranger, ob vor der Küste Orcas gesichtet worden wären.
    Â»Ja«, sagte Hank. »Der Hubschrauberpilot hat tatsächlich etwas von drei oder vier Schwertwalen erzählt, die sich in der Nähe des chinesischen Tankers aufhielten.«
    Â»Mist«, schimpfte Javid. »Ich dachte, sie hätten sich bei dem Unwetter vielleicht eine ruhigere Gegend gesucht.«
    Â»Nicht die Orcas«, erwiderte Hank. »Sie tauchen ab und kommen erst wieder, wenn der Hokuspokus vorbei ist.«
    Â»Aber wenn alles voller Öl ist, warum verschwinden sie dann nicht einfach?«, fragte ich aus dem Hintergrund. »Sie müssen doch merken, dass ihnen durch das stinkende Zeug Gefahr droht.«
    Â»Nein«, sagte Hank. »Auch wenn die Schwertwale ziemlich schlaue Wesen sind – Umweltkatastrophen sind in ihrem Hirn nicht einprogrammiert. Sie haben gute Augen und ein gutes Gehör, aber ihr Geruchssinn ist nicht besonders ausgeprägt. Sie sind nicht in der Lage, die Gefahr zu erkennen.«
    Hank hatte einen ziemlich forschen Schritt drauf und bald ließ ich das Reden sein, weil ich Seitenstechen bekommen hatte. Manchmal mussten wir über gefallene Bäume klettern, die der Sturm von ihren toten Wurzeln gebrochen hatte. Es wäre wirklich lebensgefährlich gewesen, wenn wir versucht hätten diesen Weg in Sturm und Dunkelheit zu gehen.
    Der Wald tropfte pausenlos, schwerer Nebel wogte in Schwaden durch die Bäume. Als ein großer Vogel vor uns aufflatterte, erschrak ich. Es war eine dunkle, triefende Welt des Zwielichts. Ich dachte an Tylers Geschichten, und auf einmal konnte ich verstehen, warum die alten Makah einen Häuptling Tageslicht angebetet hatten. So viele Tage im Jahr war der Himmel von grauen Wolken bedeckt und durch das Dach der Bäume im Küstenwald drang fast nie ein Sonnenstrahl. Die Menschen hier sehnten sich nach Sonne und Licht. Manchmal war die Erklärung so einfach.
    In Gedanken versunken, wanderten wir schnellen Schrittes durch den feuchten Wald, die meiste Zeit über einen Plankensteg wie am Cape Flattery. Der Sturm, die vergangene Nacht, ja selbst dieser von grauen Nebelschwaden durchzogene Geisterwald kamen mir so unwirklich vor, dass ich Mühe hatte, mich auf die bevorstehende Begegnung mit meinem Vater einzustellen. Es kam mir vor, als hätte ich ihn tagelang nicht gesehen. Vermisst hatte ich ihn allerdings auch nicht, dafür war gar keine Zeit gewesen.
    Mir wurde ganz schlecht, wenn ich nach vorn dachte. An die Auseinandersetzung mit meinem Vater und daran, dass ich bald wieder zu Hause sein würde, in Berlin. Dann musste ich mich aufs Neue mit den Jungs und Mädchen aus meiner Klasse herumschlagen. Ich würde zur Schule gehen, meine Besuche auf dem jüdischen Friedhof fortsetzen, den Malzirkel besuchen und

Weitere Kostenlose Bücher